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Das letzte Heimspiel

■ PHILIP BEHRENDT

Als meine Kumpels und ich noch jung waren, fuhren wir öfter mal ohne Eintrittskarten in Richtung Parkstadion. Wir waren sicherlich nicht die Einzigen, die das taten. In der Regel war es kein Problem, sich vor Ort noch mit dem nötigen Papier zu versorgen. Derjenige, der einen gültigen Schülerausweis sein Eigen nennen durfte, schob sich durch die Warteschlangenimzaumhalter hindurch und besorgte für alle die begehrte Ware zum vergünstigten Preis. Das funktionierte eigentlich immer.

Doch zuvor standen noch die fünfzig Kilometer von Schwelm nach Gelsenkirchen auf dem Plan. Da keiner von uns volljährig war und selbst fahren sowieso für niemanden in Frage gekommen wäre, blieb nur der ÖPNV. Zu dieser Zeit war die Kombination aus Bus und Linie 302 unsere erste Wahl. Das hieß, dass die Kumpels am Supermarkt in Bahnhofsnähe genügend Dosenbier einluden und in den Bus nach Bochum stiegen. Mein Bruder und ich folgten eine Station später, quasi unmittelbar vor unserer Haustür. Eigentlich idiotensicher, sollte man meinen. Geklappt hat es aber dennoch nicht immer. Es passierte auch mal, dass man die Stunde bis zum nächsten Bus mit Tankstellenbier überbrücken musste, da im verabredeten Gefährt niemand aufzufinden war. Wieder nach Hause gehen kam trotzdem nicht in Frage. Warum auch immer. Vermutlich war es auf dem Dorf einfach so schön provokant, biertrinkend an der Straße zu sitzen. Unwichtig.

Meist sind wir vormittags so gegen elf Uhr losgefahren. Eine knappe Stunde Bus, bisschen weniger 302, Wartezeit zwischendurch, so war man locker zwei Stunden vor Anpfiff am Parkstadion. Das reichte, um Karten zu besorgen und sich einzustimmen. Einmal – da kann ich mich noch recht gut dran erinnern – sind wir aber ganz früh losgefahren. Die Truppe war etwas größer als sonst, alle waren etwas aufgekratzter, es war mehr Bier im Gepäck, es ging mitten in der Nacht los, also so gegen neun Uhr.

Die Fahrt mit Linienbus und Straßenbahn hat ja einen ganz großen, offenkundigen Nachteil: Sanitäre Einrichtungen sind grundsätzlich erstmal nicht vorgesehen. Das ist auch einer der Gründe, der uns in späteren Jahren veranlasste, umständlichere, unschönere, aber toilettentechnisch komfortablere Strecken einzuschlagen. Mit Zwischenstopps in Hagen, Dortmund, Düsseldorf und/oder Essen kann man nämlich sehr gut leben, wenn sie die Möglichkeit bieten, sich einerseits zu erleichtern und andererseits am Bahnhofskiosk die Bestände wieder aufzufüllen.

Das muss man natürlich alles erst einmal wissen. Damals saßen wir jedenfalls nicht selten mit prall gefüllten Blasen in der 302. Der gemeine Biertrinker wird es kennen. Erst kann man sich drei oder vier Fläschchen gönnen, ohne mit der Wimper zu zucken, später reicht jeder kleine Schluck aus der Pulle, um einem das Gefühl totaler innerlicher Bedrängnis zu geben. Beim Umsteigen von Bus auf Straßenbahn ist man noch locker und beschwingt, kaum fährt die Bahn drei Meter, fängt man an, Auswege zu suchen. Immer mal wieder stürzten Mitfahrer wahllos an der nächsten Haltestelle aus dem Waggon. Im Herbst meist auf nassem Laub rutschend, aber immer in der einen Hand ihr Bier haltend, mit der anderen am Reißverschluss fummelnd, nervös einen Baum, ein Gebüsch oder wenigstens eine Mauer suchend. Je nach Fanaufkommen in der Bahn musste man sich einen solchen Schritt allerdings gründlich überlegen. Einen Sitzplatz gibt man schließlich nicht leichtfertig her, wenn das Aussteigen zwar Erleichterung bedeutet, aber auch, in die nächsten sieben Bahnen aufgrund von Überfüllung gar nicht mehr hineinzukommen. Schwierig, das alles.

Zurück zur frühen Abfahrt. Neun Uhr also. Natürlich ist es komplett beknackt, so früh zum Stadion zu fahren. Man ist Stunden vor Anpfiff, ja sogar Stunden vor Öffnung der Stadiontore vor Ort. Ich weiß auch gar nicht mehr, was genau uns da geritten hat, aber es war halt einfach so. Vielleicht brauchten wir auch noch Karten und hatten, anders als sonst, größere Bedenken, keine mehr zu bekommen.

Wir fuhren also auf der oben beschriebenen Route über Bochum nach Gelsenkirchen. Im Großen und Ganzen lief alles problemlos, was natürlich in erster Linie auf das Bier zutraf. Das war auch nicht weiter schlimm, denn schließlich sollte an diesem Tag die gute Laune im Vordergrund stehen. Blöderweise aber hat man immer einen in der Truppe dabei, der sich nicht so ganz im Griff hat. In diesem speziellen Fall war der eine leider ich. Aus irgendwelchen ominösen Gründen bekamen mir die Massen an Bier zu dieser frühen Stunde bedauernswerterweise überhaupt nicht, sodass ich, gegen halb zwölf am Stadion angekommen, einen Bauzaun auf übelste Weise besudeln musste. Ja, das war für uns beide nicht angenehm, für meine Kumpels jedoch ein Mordsspaß. War ja klar. Wer Kotze am Schuh hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Der „Schlachtruf“ für diesen Tag war damit auch geklärt: „Philip hat gekotzt, Philip hat gekotzt, Philip, Philip, Philip hat gekotzt!“, skandierten die Jungs immer wieder voller Freude. Das muss man dann über sich ergehen lassen. Mit so einem Quatsch verhält es sich ähnlich wie mit unliebsamen Spitznamen: Je heftiger man sich gegen sie wehrt, desto mehr verfestigen sie sich und bleiben im schlimmsten Fall für immer kleben.

Als die Stadiontore sich endlich öffneten, tingelte unsere Gruppe dann recht zielstrebig in Richtung Norden. Noch schnell ein Bierchen eingesammelt und ab in die Kurve. Im Gegensatz zum restlichen Stadion war die Nordkurve schon relativ früh sehr gut besetzt. Oppa Pritschikowski, die üblichen Gesänge und Fanfolklore, mal hier, mal dort. Man kennt das. Manche Besucher hatten schon jetzt einen so langen Tag hinter sich, dass sie die Zeit bis zum Anpfiff nutzten, um sich sitzend noch ein wenig auf den Stufen der Kurve auszuruhen. Meine Wenigkeit gehörte zu dieser Gruppe. Still ein wenig dasitzen, am Bier nippen und zwischen den ganzen stehenden Menschen versuchen, ein paar Sonnenstrahlen abzugreifen, das war jetzt genau das Richtige. Bis ich es plötzlich wieder neben mir hörte: „Philip hat gekotzt, Philip hat gekotzt, Philip, Philip, Philip hat gekotzt!“ Immer wieder. Erst einer, dann zehn, dann fünfzig Leute. Dann noch mehr. Zahlenmäßig lässt sich sowas ja immer schwer einschätzen, aber die Worte waren nun doch recht deutlich in der Kurve zu vernehmen. Heiliger Bimbam! Was jetzt? Lange kann ich nicht drüber nachgedacht haben, denn im nächsten Moment fand ich mich, das Gegröle befeuernd, auf einem Wellenbrecher stehend, wieder. Das war vielleicht ein bisschen albern und ganz sicher ziemlich bescheuert, aber ich muss bis heute grinsen, wenn ich an diesen Moment denke. Das war irgendwie ein guter Moment an dem Tag.

Später saßen ein paar von unserer Gruppe – da es zwischendurch drunter und drüber ging, waren wir etwas dezimiert – noch sehr lange zusammen an einer kleinen Brücke auf dem Weg vom Stadion zur Straßenbahnhaltestelle und tranken Bier in der Abendsonne. Durch einen milchigen Schleier sah ich immer wieder Schalker an mir vorbeiziehen, die sich Erinnerungsstücke ergattert hatten: ein bisschen Rasen, etwas vom Tornetz, demontierte Sitzbänke. Traurige Erinnerungsstücke. Es war der Abend des 19. Mai 2001.

Mit Schalke machse wat mit

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