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5 Der Weihnachtsbrief

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Thomas Spranz-Fogasy

Regelmäßig, auf der Rückfahrt vom Sommerurlaub, so um den 10. September herum, begann für uns Weihnachten. Nicht die ganze Fahrt über, aber immer wieder, sangen die Kinder auf den Rücksitzen Weihnachtslieder. Und ich begann, im Kopf schon mal den Weihnachtsbrief zu formulieren.

Der Weihnachtsbrief – eine Aufgabe, die mir seit Anfang der 1980er Jahre zusteht. Ein Kollege hatte mich drauf gebracht, mit seinem Weihnachtsbrief. Ausdrücklich als solcher tituliert, andere nennen das Jahresbrief, aus England, USA kommen Christmas oder Xmas Letters. Ich fand das eine gute Idee.

Im Weihnachtsbrief wird Verwandten, Freunden und näheren Bekannten mitgeteilt, was im vergehenden Jahr so bei uns in der Familie passiert ist, welche Pläne sich erfüllt, welche sich nicht erfüllt haben. Es geht um Schönes und nicht so Schönes, Lustiges und Trauriges, Geburten und Tode, Krankheiten und Genesungen, Hochzeiten, Feste und Reisen, berufliche und sonstige Pflichten, Erfolge und Misserfolge, um Freunde und Anverwandte.

Der Grundton des Weihnachtsbriefs soll dabei heiter sein, Negatives und Trauriges wird eher mal „verpackt“, aber sichtbar gelassen, für den, der es „lesen“ kann und will. Der eigene Anspruch ist auch, jedes Jahr eine eigenständige literarische Form zu entwickeln, z. B. mit einer Grundidee, wie die, das Geschehene aus der Sicht unserer Hauskatze zu schreiben. Und ein Foto muss dabei sein, eins, dass alle Familienmitglieder zeigt, gelegentlich auch eins nur mit den Kindern, neuerdings auch mal nur von uns Eltern; wenn nur drei (von Vieren) abgebildet sind, wird auf die Fotografin/den Fotografen im Text eigens hingewiesen. Häufig ist es ein Reisefoto, von den großen Reisen. Das Foto ist immer rechts oben. Links daneben steht die Adresse, über beidem mittig und mit 18 Pt Schrift fett und kursiv: Petra, Lina, Rosa und Thomas Fogasy, Weihnachten [Jahr]. Und am Ende des Briefs steht dann noch im dito Format: Ein schönes Weihnachtsfest // und ein // Gutes Neues Jahr.

In der Großfamilie hieß es dazu immer wieder mal „Ihr macht’s euch aber einfach, einen Brief schreiben, Kopien machen, fertig“ – wenn die wüssten! Sammeln, ordnen, Idee entwickeln, ein sprechendes Foto (aus)suchen, erste Version entwerfen, Familie drüber schauen lassen, zweite, dritte und später die finale Version erstellen – es dauert einige Stunden und Tage, bis der Weihnachtsbrief seine fertige Gestalt erreicht hat, verpackt und versandt ist.

Der große Anreiz besteht darin, ein ganzes Jahr auf eine Seite zu packen. Und nicht zu sehr zu schummeln mit der Schriftgröße (das war die ersten Jahre mit Schreibmaschine sowieso nicht drin); Times Roman 11 Pt bei 1-zeiligem Abstand war das kleinste Format, meist hat’s aber zu 12 Pt und 1,15 Zeilenabstand gereicht.

Die Kosten: ca. 80 Briefe, 20 davon ins Ausland – alles kopieren (anfangs noch 20 Pfennig pro Kopie), eintüten, Briefmarken drauf oder – fürs Ausland – auf dem Postamt bekleben lassen. Im Lauf der Zeit wurde es immer einfacher (und billiger) durch den Emailversand; 20 Exemplare müssen trotzdem kopiert und eingetütet werden für die älteren, netzlosen Verwandten und Freunde.

Der Weihnachtsbrief beginnt immer mit einer leisen Klage, dass schon wieder ein Jahr zu Ende geht, aber auch mit einem Verweis darauf, wie vollgepackt, schön oder traurig das vergehende Jahr war. Das geschieht mal mit einem literarischen Zitat wie „eins, zwei, drei im Sauseschritt …“ (Wilhelm Busch) oder „Wirklich schon wieder ein Jahr …“ (Reinhard Mey) oder auch mit einer Beschreibung der aktuellen Schreibsituation: „Da sitz ich nun ich armer Tor …“ (nach Faust). Oder es wird das Lebensgefühl des ganzen Jahres kondensiert:

„Ein Glück, dass wir zu viert sind, so hat jede(r) ein eigenes Jahr und zusammen haben wir vier erlebt – und das war nötig anno Domini [Jahr], wie hätten wir sonst die sprudelnde Ereignisflut bewältigen sollen. Wir können in diesem Brief nur eine Ahnung davon wiedergeben, ein tolles Jahr!“ [das Korrekturprogramm mahnt hier gerade an: „Versuchen Sie, Umgangssprache zu vermeiden“ und bietet für „tolles“ an: „großartiges“]

Als nächstes folgt meist das wichtigste Ereignis des Jahres, eine Geburt, ein Todesfall, runde Geburtstage, manchmal auch nachträglich Wichtiges, das zwischen dem Verfassen des letztjährigen Weihnachtsbriefs und dem Jahresende geschehen ist, eine OP, ein Todesfall. Wenn aber die große Weltgeschichte wieder mal einen GAU hingelegt hat, haben wir das auch an dieser Stelle vermerkt: Tschernobyl, Balkankrieg, Golfkrieg, 9/11 … Und dann beginnt der eigentliche Bericht. Wer hat was gemacht, was ist passiert, was wurde erreicht, was verpasst, aufgeteilt in Berufliches, Hobbies, Beziehungen. Und dann die Reisen, sie waren und sind natürlich familiäre, gelegentlich auch berufliche Höhepunkte.

Der letzte Absatz ist dann wieder eine Engführung und ein Ausblick auf die kommenden Tage, wie das Jahr ausklingen soll, auch, was im folgenden Jahr erwartet, ersehnt, erhofft wird und, ganz wichtig, eine Ansprache an die Empfänger des Weihnachtsbriefs, was wir ihnen für die Weihnachtstage, für das neue Jahr und überhaupt wünschen, und auch, was wir der Welt wünschen.

Und, was wird draus? Wir halten viele Kontakte lebendig, über viele Jahre, in denen wir viele der Empfänger nicht sehen, nicht treffen, uns nicht einmal mit ihnen schreiben. Aber wie toll [und wieder meldet sich das Korrekturprogramm: „großartig“ soll ich schreiben], wenn man sich über viele Jahre hinweg nur per Weihnachtsbrief „trifft“ und dann, wie in einem Fall, nach 22 Jahren anknüpft, als ob es gestern gewesen sei. Im konkreten Fall am vorletzten Tag einer langen Reise durch den Westen der USA, in Santa Barbara. Am Strand die Erinnerung, dass ich hier doch Leute kenne, KollegInnen. John und Jenny Gumperz, ersterer damals 83, wollte ich die Kinder nicht zumuten, also habe ich die andere Kollegin, Dorothy Chun, angerufen, spaßeshalber. Sie hatte ich Anfang der 1980er Jahre im Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim kennengelernt. „Kommt doch heute Abend vorbei“, hieß es, und das taten wir. Die Kids erstmal eher widerstrebend, dann aber doch, ob eines riesigen 3x5 Meter Fernsehapparates, einer Nachbarschaft mit Jennifer Aniston und Brad Pitt und auch ob der lieben Kollegin und ihres Mannes wegen begeistert. Und am Ende des Abends dann die Einladung, sich beim nächsten Mal früher anzumelden, wir könnten bei ihnen auch wohnen – das haben wir dann drei Jahre später auch getan: Nach einem sehr schönen Abend haben wir am nächsten Tag die Hausschlüssel in die Hand gedrückt bekommen, wir sollten so lange bleiben, wie wir wollten, sie müssten jetzt nach San Francisco, ihrem Sohn beim Umzug helfen – dies alles eine Folge der Institution des Weihnachtsbriefs.

Und es kommen Weihnachtsgrüße zurück, viele, fast hundert, manche als kurze Karten, Briefe, Flyer, aber viele ausführlichere – und, ja, eine ganze Reihe: Weihnachtsbriefe, mit Informationen, die wir anders nie erfahren würden, manch Tragisches, viel Schönes und viele Grüße. Alle Grußschreiben hängen dann überm Kamin bei uns, oft ist die ganze Wand zugehängt. Und sie hängen dann bis nach dem Sommerurlaub (s.o. erste Zeile), dann werden sie radikal abgenommen, nochmal gesichtet. Die Schnüre, an denen alle Weihnachtsgrüße mit Klammern befestigt werden, bleiben, es lohnt sich ja nicht, denn in drei Monaten heißt es ja wieder …: „ja is’ denn heut’ scho Weihnachten?“ …

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