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1 Alle Jahre wieder …

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In seiner kleinen Philosophie des Festes hat Odo Marquard (1989) das Fest als „Moratorium des Alltags“ bestimmt, als eine wiederkehrende, aber stets nur vorübergehende Aussetzung der Anforderungen und Routinen des Alltags. Das Weihnachtsfest – und man könnte das mit Blick auf die üblichen Arbeitsroutinen in unserer Gesellschaft sicher ausdehnen auf die sogenannte Weihnachtspause – scheint durch diese Differenzqualität gut charakterisiert. Jedes Jahr aufs Neue ist Weihnachten die Zeit, in der man – hoffentlich – nicht arbeitet, nicht pendelt, vielleicht sogar offline geht, und die stattdessen mit allerlei „ritualisierte[n] Formen festlichen Zusammenseins“ (Kopperschmidt 1999, 11) gefüllt wird. Die wohl typischste unter diesen Formen ist mit Sicherheit das Weihnachtfest im Familienkreis (Schüller/Linke 2016, 2), das jede Familie mit ihren je eigenen Gepflogenheiten begeht. Doch auch die Politik hat ihre Weihnachtsrituale, und die Weihnachtsansprache, von der dieser Aufsatz handeln soll, nimmt unter diesen einen besonderen Platz ein.

Die Weihnachtsansprachen, die seit Bestehen der Bundesrepublik von hohen politischen Amtstragenden (zunächst von den Bundeskanzlern und seit 1970 von den Bundespräsidenten1) gehalten und massenmedial verbreitet werden, sind politische Reden, denen die genannte Differenzqualität des Weihnachtlichen in besonderer Weise eingeschrieben ist. Sie treten – stärker noch als die übrigen Reden insbesondere der vor allem mit repräsentativen Aufgaben betrauten Staatsoberhäupter – in Distanz zum politischen Tagesgeschäft und sind zumeist von einem Gestus des Innehaltens und der Besinnung geprägt. Der typische Zeitpunkt am Jahresende wird ähnlich wie in den Neujahrsansprachen der Bundeskanzler*innen häufig für eine Art Rückblick und Bilanz genutzt, die sich schon dadurch vom Bilanzierten selbst distanzieren muss. Und als medial vermittelte Ansprachen, die alle an ihren privaten Empfangsgeräten hören oder auch sehen können, fügen sie sich zumindest von der Idee her in die familiären Formen des Zusammenseins ein. Zwar dürften die Zeiten vorbei sein, in denen sich landesweit die Familien vor dem Radio oder dem Fernseher versammeln, um die Weihnachtsansprache zu hören, nicht zuletzt wegen der internetbasierten Dissemination, welche die für ältere massenmediale Formate typische Gleichzeitigkeit der Rezeption aufhebt. Aber immer noch richten sich die Bundespräsidenten in ihren Ansprachen an die Mitbürgerinnen und Mitbürger in ihrer häuslichen Umgebung. Weihnachtsansprachen werden nicht etwa vor einer anwesenden Festgesellschaft gehalten und nur zusätzlich übertragen, sondern vorab und eigens für die Übertragung aufgezeichnet, meist in einem Ambiente, das mit den üblichen Weihnachtsutensilien wie dem Adventskranz den häuslichen Umgebungen angeglichen ist. Und so sind die Weihnachtsansprachen auch nicht einfach Verkündigungen oder Rechtfertigungen etwa politischer Maßnahmenpakete, sondern sie werden trotz der raumzeitlichen Zerdehnung der Kommunikationssituation als „eine Art Gespräch mit der Zuhörerschaft“ (Sauer 2001, 230) gestaltet. Auch der Bundespräsident feiert schließlich Weihnachten, so dass er eher für die anderen als zu diesen spricht (Kopperschmidt 1999, 14), die sich in ebenso festlicher, aber privater Atmosphäre befinden.

Es handelt sich also bei den Weihnachtsansprachen um Festreden einer ganz besonderen Art, da sie als öffentliche politische Reden in eine familiär-private Alltagsenthobenheit hineinragen. Ihre linguistische Untersuchung ist ein reizvolles, aber bisher nur sehr punktuell durchgeführtes Unterfangen (Sauer 2001; zu Neujahrsansprachen Holly 1996). Dabei eröffnet gerade die Ritualhaftigkeit und alljährliche Wiederkehr der Weihnachtsansprachen besondere Analysemöglichkeiten, indem sich die Ansprachen zu einer lückenlosen Serie mit nunmehr bereits 70 Folgen verbinden. Gerade in der Serialität der Ansprachen lässt sich, gestützt durch quantifizierende Methoden, fragen, wie die Redner jeweils die besondere Aufgabe lösen, die Bevölkerung am Weihnachtsfest in eben jener Mittellage zwischen politischer Öffentlichkeit und festlicher Privatheit zu adressieren. Und es lässt sich fragen, wie sich dies möglicherweise über die Jahrzehnte verschiebt und wie sich die Ansprachen darum auch als Quellen einer bundesrepublikanischen Mentalitätsgeschichte lesen lassen.

Datengrundlage für die folgenden Analysen bilden die jeweils publizierten Druckfassungen, die teilweise im Internet (auf bundespraesident.de sowie konrad-adenauer.de) und teilweise in den Publikationen des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung und anderen gedruckten Quellen verfügbar sind. Viele Bundespräsidenten halten zusätzlich eine Weihnachtsansprache an die Deutschen im Ausland, es wurde jedoch jeweils nur die Hauptansprache ins Korpus aufgenommen. Das 73.857 Tokens umfassende Korpus wurde für die Analyse mithilfe des TreeTagger nach Wortarten annotiert und lemmatisiert.

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