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1 Eine Frage stellen in aufgeklärter Unsicherheit

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Ingo H. Warnke

„Instinkt ist Sympathie“, heißt es in Henri Bergsons epochalem Werk Schöpferische Evolution, das 1907 unter dem Titel L’évolution créatrice in Paris erscheint: „Instinkt ist Sympathie. Könnte diese Sympathie ihren Gegenstandsbereich erweitern und sich auch über sich selbst zurückbeugen, so würde sie uns den Schlüssel zu den Lebensvorgängen bieten – gerade so wie die voll entwickelte und geradegerichtete Intelligenz uns Zutritt zur Materie gewährt.“ (Bergson 1907/2013: 203) Versuchen wir uns also instinktiv und das heißt mit Sympathie einer beiläufigen Frage zum Weihnachtsfest zu widmen, ohne dabei sogleich den üblichen intellektuellen Apparat der Linguistik zu bemühen oder Fragen zur derzeit viel erörterten Cancel Culture zu behandeln. Um Sprache soll es gehen, um eine Abschiedsformel beim vorweihnachtlichen Präsenzshopping, von dem wir allerdings seit Corona nicht mehr recht wissen, ob wir schon über etwas Vergangenes sprechen. Aber die Erinnerung wird noch wach genug sein: Der Erwerb eines Geschenks im analogen Handlungsablauf der vorweihnachtlichen Wochen und Tage und der Abschluss der Handlung durch eine Routineformel: ‚Frohe Weihnachten‘.

Viel könnte man dazu sagen, insbesondere auf die Pragmatik von Grußformeln im Allgemeinen eingehen, mit Coulmas (1981: 81–82) die Situationsabhängigkeit von Routineformeln noch einmal erörtern und sich fragen, inwiefern ‚Frohe Weihnachten‘ wie ‚Fröhliche Weihnachten‘ (Coulmas 1981: 99) funktioniert und Beispiel für Konventionalität formelhafter Rede ist. Auch könnte man Fragen der Politeness diskutieren und wahrscheinlich ließen sich dabei einige kluge Beobachtungen anstellen.

Ich möchte ‚Frohe Weihnachten‘ allerdings allein in einer spezifischen Kontextualisierung betrachten, die ich aufgeklärte Unsicherheit nenne, und die sich für jeden einstellen kann, der in multikulturellen bzw. diversen Kontexten seine wahrscheinlich vorhandenen monokulturellen, identitätsverbürgten Gewissheiten in Frage stellt. ‚Frohe Weihnachten‘ mag ja dort eine freundliche Geste sein, wo Weihnachten gefeiert wird, aber wo können wir unter Fremden davon schon fest ausgehen, in einer pluralen Gesellschaft, deren Bevölkerung unterschiedlichste Werte teilt und auch in ihren religiösen Überzeugungen, wo es solche gibt, divers ist. Manche*r mag reflexartig am ‚Frohe Weihnachten‘ festhalten wollen, doch man verhält sich dann wie jemand, der mit seinem analogen Schlüssel ein digitales Passwort einzugeben versucht. Zugang zum Anderen erreicht man auf diesem Weg nicht verlässlich. Man lernt sich vielleicht in irgendeiner Eigenschaft kennen, allerdings in Praktiken, die Homogenitätserwartungen vor die Akzeptanz möglicher Unterschiede setzt.

Selbstverständlich können Routineformeln, wie alle sprachlichen Zeichen in neuen Kontexten, ihre Bedeutungen und Funktionen ändern, sie erhalten andere Werte in neuen Zusammenhängen. Eine retrospektive Affirmation von ‚Frohe Weihnachten‘ im Sinne eines dumpfen Reflexes – das hat man hier schon immer so gesagt – wäre angesichts dessen töricht. Zumal es dieses ‚schon immer‘ wohl auch nie gegeben hat.

Und so geht es beim Froheweihnachtensagen um mehr als eine (un)angemessene Formel, es geht um Fragen der Positionierung in einer breiten Debatte um die Anerkennung sozialer Diversität (vgl. dazu Spitzmüller/ Flubacher/Bendl 2017). Mindestens in den großstädtischen liberalen Milieus hat es sich herumgesprochen, dass nicht alle Menschen Ende Dezember Weihnachten feiern – was dann auch bedeutet, dass ein solches Weihnachtsbuch wie das vorliegende eine recht spezifische Adressierung hat. Eine Routineformel wie ‚Frohe Weihnachten‘ wird dabei schnell von einer überkommenen, mehr oder weniger herzlich gemeinten Wunschformel zum Positionierungsinstrument bzw. besitzt indexikalische Bedeutung als Emblem sozialer Werte (vgl. Agha 2003).

Angesichts dessen gilt es beim Froheweihnachtensagen oder dem Verzicht darauf, von einer Freiheit Gebrauch zu machen, auch anders sprechen zu können – wohlgemerkt: nicht zu müssen. Nicht in Positionierungsnotwendigkeiten der Zeitläufte zu tappen und Mauern um mühsam gezüchtete Ausdrucksweisen zu errichten oder an die Mauern der Anderen unsere bestätigenden oder infragestellenden Taggs und Hashtags zu heften, sondern die Möglichkeit zu ergreifen, so zu reden, dass wir einander immer wieder neu oder überhaupt einmal zuhören können und uns anerkennen in unseren Unterschieden. Und hier komme ich auf Bergson zurück. Die verbale Freiheit, die ich meine und die routiniertes Verhalten als fragwürdig erscheinen lässt, ist in meiner Lesart das linguistische Pendant zu Bergsons Rede vom Lebensschwung (élan vital): „Der Lebensschwung, von dem wir sprechen, besteht aufs ganze gesehen in einem Schöpfungsverlangen“ (Bergson 1907/2013: 285). Nicht die Regeln abgrenzbarer Richtigkeiten eines wie immer gearteten Sprechens weist uns den Weg zueinander, sondern das schöpferische Potential einer immer wieder neuen Suche nach der je angemessenen Ausdruckweise, das, was wir sprachliche Kreation nennen können und was immer kontingent bleibt. Daran müsste im Übrigen auch gedacht werden, sollte es bald überhaupt nur noch Onlineshopping geben. Andernfalls werden nämlich Algorithmen längst identifiziert haben, in welchen Kleingarten sie ihr Geschenk via Drohne abzuwerfen haben und welche identitätsbezogene Grußkarte daran zu heften ist, frei von Instinkt und jenseits der Sympathie, aber sicher passend.

Kurz, es geht um die Frage, sollen wir nun Fremden beim Shopping ‚Frohe Weihnachten‘ wünschen oder nicht. Zunächst sollten wir dieser Frage ihre deontische Dringlichkeit nehmen, denn niemand soll oder muss hier irgendetwas tun. Es sollte uns nicht um politische Korrektheit gehen, sondern um die Möglichkeit eines Nachdenkens über ein grundsätzliches ethisches Anliegen, die Adressierung der Rede an die Anderen. Einander mit Sympathie zu begegnen, könnte uns immerhin kreativer machen, als eine hier und da vielleicht gar nicht so passende Routineformel zu setzen.

Dies gilt umso mehr, wenn ‚Frohe Weihnachten‘ etwa vs. ‚Frohe Festtage‘ etc. mehr ist als eine Routineformel, sondern Mittel der einschließenden oder ausschließenden sozialen Registrierung (Spitzmüller 2013). Die Frage, welche Firmengrußkarte nun angemessen ist oder was man noch sagen darf/soll/kann usw. finde ich dabei sehr viel weniger interessant als die Frage, wie es uns gelingt, den Anderen zu begegnen. Und das tut not. Routineformeln haben in homogenen Gesellschaften die Funktion der Stabilisierung von Wertgemeinschaften. Ändern sich diese durch Säkularisierung, religiösen Pluralismus und Orientierungsdifferenzierungen, werden sie nicht nur zu fossilierten Ausdrucksweisen, die nur noch milieuspezifisch unhinterfragt bleiben können und eine allgemeine Bedeutung schließlich nur noch als Träger der Patina vergangener Tage besitzen, sie führen auch zu unnötigen Zuspitzungen des Aneinandervorbeiredens.

Ich plädiere dafür, wo immer man es möchte, ‚Frohe Weihnachten‘ zu wünschen, aber sich zugleich öfter zu fragen, ob man das überhaupt möchte und was man damit bezweckt. Und ob der gute Wunsch, wenn es um diesen geht, hier und da nicht anders und noch viel passender auszudrücken wäre. Instinktiv die alternative Rede bedenken, denn Instinkt ist Sympathie. Ich denke hier an das Konzept der Konvivialität von engl. conviviality. Im Englischen bedeutet es soviel wie Geselligkeit und auch Fröhlichkeit, die nicht zuletzt im ‚Frohe Weihnachten‘ mitgegeben sind. Ich verstehe Konvivialität mit Paul Gilroy (2005: xv) als eine Haltung radikaler Offenheit, die geschlossenen Identitätskonzepten eine Absage erteilt und uns auf die unvorhersehbaren Mechanismen der Identifikation hinweist, „the always unpredictable mechanisms of identification“. Nicht die Identität als jemand mit seinen Routineformeln führt uns zu den Anderen, sondern kreative und sympathiegetragene Identifikationen, die von uns selbst und unseren Gewissheiten hinwegführen. Insofern hilft hier Sprachkritik nicht weiter, sondern die Frage, wie das, was wir sagen, für Andere klingt. Ich spreche auch von Cantabilität und verstehe darunter den Klang unserer Rede „als Folge einer intendierten Strukturierung von Material (…), mit der Absicht, eine an den Hörer bzw. Leser gewandte Angemessenheit und verändernde Kraft der Sprache zu suchen, die sich atomistischer Rezeption entzieht“ (Warnke 2020: 147–48).

Cantabilität ist insofern das Potential eines Textes, ein Gegenüber jenseits atomistischer Keywordsuche zu erreichen und zu ändern, eine Wirkung zu entfalten, die über Informationsvermittlung hinausreicht. Cantabilität ermöglicht damit die Grenzerfahrung einer „Ent-Subjektivierung“ im Sinne Michel Foucaults (…); eines von uns selbst fortgehenden, reichen Klangs (…). (Warnke 2020: 148)

Unser Wunsch an die Anderen beim Shoppen vor Weihnachten ist eine Gelegenheit, es auch einmal klingen zu lassen, unsere vermeintliche Identität in Konvivialität hinter uns zu lassen, uns kreativ und sympathisch mit Anderen, etwas oder einer Situation zu identifizieren und Cantabilität zu üben.

Linguistisch gewendet wäre statt eines routinierten Wunsches der einfachste Weg dorthin, auch einmal eine für den Augenblick passende Frage zu stellen, und sei sie noch so beiläufig. Feste sind ein guter Ort und eine gute Zeit, dies auszuprobieren, den einen oder anderen intuitiv geeigneten Ergänzungsfragesatz zu formulieren, wo es einem auf der Zunge liegen könnte, ‚Frohe Weihnachten‘ zu sagen. Wohlgemerkt, es geht ums Shoppen, im trauten weihnachtsgeübten Familienkreis am Heiligen Abend mag das alles noch ganz anders sein, wenngleich auch hier die eine oder andere Frage die Konvivialität fördern kann, wie immer diese dann auch aussieht. So bleiben wir, um Bergson ein letztes Mal zu erwähnen, im Lebensschwung. Die aufgeklärte Unsicherheit im Verlust routinierten Sprachverhaltens ist am besten transformiert in konviviales Handeln, wenn wir mehr fragen. In einer Linguistik des Zuhörens (Warnke 2020b) könnte man sich dafür stark interessieren. Wenn Weihnachten wieder einmal näher rückt, wird es Zeit, Fragen zu stellen; das Anerkennen unserer Unterschiede gehört dann dazu.

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