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HOLGER ADAM

Delia Derbyshire

• WHITE NOISE

• ERSTE AUFNAHMEN 1963

Der Einfluss, den Delia Derbyshire und das BBC Radiophonic Workshop auf die vor allem britische elektronische Popmusik der wenigstens letzten dreißig Jahre ausgeübt hat und bis in die jüngst vergangene Gegenwart hinein ausübt, ist nicht zu überschätzen. Von Peter Kember (Sonic Boom, Spacemen 3) über Stereolab, Broadcast und Pram bis hin zu The Focus Group, Pye Corner Audio oder The Caretaker – sie alle wissen um die Pionierleistung von Delia Derbyshire.

Als Angestellte des schon erwähnten BBC Radiophonic Workshops war sie, wenn auch nicht im Alleingang, maßgeblich mitverantwortlich für die Erfindung einer zwanzig Jahre später einsetzenden musikalisch retrofuturistischen bzw. nostalgischen Bewegung, die von Kulturtheoretiker Mark Fisher unter dem Oberbegriff Hauntology zusammengefasst wurde, und die, gerne unter Zuhilfenahme von Vintage-Equipment (analoge Synthesizer etc.), eine musikalische (und auch gesellschaftlich verklärte) Vergangenheit in die Gegenwart hereinholen wollte. Der Rückgriff dieser ästhetisch nicht nur rückwärtsgewandten sondern auch vergangenheitsbewussten Avantgarde-Bewegung (die bereits in den 1990er-Jahren einsetzte und zuweilen mit dem hilflosen Begriff Postrock apostrophiert wurde) auf die Library Music der 1960er-Jahre kommt nicht von ungefähr. Zum einen verhieß die Zukunft zum damaligen Zeitpunkt irgendwie noch mehr als abschmelzende Polkappen; heute, so weiß man längst, ist die Zukunft eben nicht mehr, was sie früher einmal war. Zum anderen stellt das Londoner Radiophonic Workshop neben den Studios für elektronische Musik in Paris und Köln einen der europäischen Geburtsorte für elektronische Musik dar – Musik, ohne die heute kein Ton, der aus einem Laptop, Synthesizer oder einer Loop-Station heraus erklingt, vorstellbar ist. Die Groupe de recherches musicales um Pierre Schaeffer erfand die Musique concrète während auf der anderen Seite des Rheins Karlheinz Stockhausen Werke wie »Kontakte« oder »Hymnen« komponierte.


White Noise, An Electric Storm (Island Records, 1996)

Jenseits des Ärmelkanals, in London, saß derweil Delia Derbyshire als Angestellte des Workshops an der Erstellung von Klangminiaturen zur Vertonung fantastischer, unwirklicher oder zumindest unsichtbarer Welten: Mond- und Seelenlandschaften fanden ihr akustisches Äquivalent mithilfe der handwerklichen Fähigkeiten von Delia, die in akribischer Arbeit am Detail eine oft nur wenige Sekunden andauernde synthetische Funktions- und Gebrauchsmusik anfertigte. Sounddesigns und Geräusche zur akustischen Untermalung fliegender Untertassen oder durch die Zeit reisender Telefonzellen. Die elektronische Realisierung der Titelmelodie zur britischen TV-Serie Doctor Who ist wahrscheinlich ihr popkulturell bekanntester Beitrag. Elektronische Realisierung deshalb, weil die Komposition des Themas aus der Feder des australischen Komponisten Ron Grainer stammt – Derbyshire oblag es, im Angestelltenverhältnis die Umsetzung der notierten Musik in ein futuristisches und zeitloses Klangabenteuer zu bewerkstelligen. Zum selben Zeitpunkt also, als Pierre Schaeffer, Karlheinz Stockhausen & Co. als große Komponisten elektronischer Musik galten und gefeiert wurden, leistete Derbyshire im Angestelltenverhältnis dieselbe Arbeit – allerdings ohne dafür als Komponistin Ruhm, Urheberrechte und Tantiemen in Anspruch nehmen zu können. Während ihrer Zeit bei der BBC arbeitete sie auch an anderen Projekten und, um arbeitsrechtliche Konsequenzen zu vermeiden, dies zumeist unter dem Pseudonym Li de la Russe. Mit ihrem BBC-Kollegen Brian Hodgson (Nikki St. George) und dem amerikanischen Musiker David Vorhaus produzierte sie 1969 Standard Music Library: Electronic Music, ein Album mit Klangexperimenten. Im selben Jahr erschien in derselben Besetzung, aber unter dem Projektnamen White Noise das Album An Electric Strom, eine surreal-verdrehte Klangcollage, ein musikalischer Trip, ein Klassiker der elektronischen Popmusik. Die Reichweite ihrer Musik blieb jedoch überwiegend auf einen kleinen Kreis begrenzt. So stand Derbyshire während dieser Jahre mit Künstler*innen wie Paul McCartney oder Yoko Ono in Kontakt oder arbeitete mit ihnen zusammen – eine breite, öffentliche (und zu Lebzeiten auch finanzielle) Anerkennung für ihre bahnbrechenden Arbeiten blieb ihr aber versagt. 1973 kehrte Derbyshire den Tonstudios der BBC frustriert den Rücken, wandte sich anderen Aufgaben zu und lebte jahrzehntelang zurückgezogen, bis Peter Kember sie Ende der 1990er-Jahre kontaktierte und in einen intensiven kreativen Dialog mit ihr trat. Doch bevor es zum Comeback der mittlerweile kultisch verehrten Künstlerin kommen konnte, verstarb Delia Derbyshire nach kurzer Krankheit 2001. Einen Einblick in die tragische Lebensgeschichte von Delia Derbyshire vermittelt die fünfundzwanzig Minuten kurze Dokumentation The Delian Mode von Kara Blake aus dem Jahr 2009.

Zurück bleiben nicht nur im historischen Kontext, sondern darüber hinaus abenteuerliche und herausfordernde musikalische Arbeiten, die aufgrund immer noch bestehender Urheberrechte leider nicht als Gesamtwerk zugänglich sind. Sich das Klanguniversum von Delia Derbyshire zu erschließen bedeutet, im Kleingedruckten zu lesen. Ihre Arbeiten finden sich u. a. verstreut auf zahllosen von der BBC herausgegebenen Zusammenstellungen und es gibt bisher keine Veröffentlichung, die ihren Kompositionen in einem repräsentativen Sinne gerecht wird. Eine sorgfältig editierte Zusammenstellung und Herausgabe der Complete Recordings of Delia Derbyshire steht leider noch aus.

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