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Hans Plesch

Pauline Oliveros

• ERSTE LP 1967 (ERSTE AUFNAHMEN 1961)


Pauline Oliveros, Sonic Acts, 2012

Ich fang mal ganz klischeehaft an: Wenn es Pauline Oliveros nicht im real life gegeben hätte, könnte zumindest mann meinen, eine kunstinteressierte Lesbe und eine technikbegeisterte Emanze hätten sie sich ausgedacht. Aber das war gar nicht nötig. 1932 wurde diese außerordentliche Musikerin in Texas geboren. In den 1940er-Jahren war das Akkordeon dort recht populär und in Houston wurde anlässlich jedes großen Rodeos ein riesiges Akkordeonorchester zusammengestellt. Auch die junge Pauline Oliveros war daran beteiligt und so beeindruckt, dass sie später ein Studium dieses Instruments absolvieren sollte. Mit 16 Jahren wusste sie außerdem, dass sie Komponistin werden wollte. KomponistInnen, die Instrumente spielen, gibt es einige, aber es dürfte kaum jemand gegeben haben, dessen Instrument das Akkordeon war. Es ist ein relativ junges Instrument, das Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde, sich rasch in unterschiedlichsten Bauformen über die ganze Welt verbreitete und vor allem in populärer Musik fürs gemeine Volk breite Anwendung fand. Bis in die 1950er-Jahre galt es ein wenig unseriös, bevor auch klassische KomponistInnen begannen, sich dafür zu interessieren. Durch virtuose Akkordeonspieler wie Teodoro Anzelotti ist längst auch die Avantgarde auf dieses Instrument aufmerksam geworden. Aber das war Pauline Oliveros da längst, Avantgarde. Als Frau, als moderne Komponistin, die neue Formen und Formate entwickelte.

Oliveros zog 1950 mit ihrem Akkordeon nach Kalifornien, besorgte sich einen Job und ging an die Uni. Unter ihren Lehrern ist Robert Erickson besonders zu erwähnen, ein Pionier der Tonbandkomposition. Oliveros beschreibt ihn später als wahren Mentor, der seinen SchülerInnen (Oliveros war aber offenbar zu dieser Zeit die einzige Frau) ihren je eigenen Weg ermöglichte. Und sie verweist auf etwas offenbar Besonderes im Unterricht: die Abwesenheit von Sexismus und Rassismus. Mit 21 Jahren besorgte sich Oliveros ihr erstes Tapedeck, denn sie war früh fasziniert von den Klangmöglichkeiten der Elektronik der 1950er-Jahre. Als eine der ersten Frauen mischte sie in dieser weitgehend Männern – wie in diesem Fall Morton Subotnick, Reich & Riley – überlassenen Domäne höchst aktiv mit. Dass sie sich in einer Zeit vor dem Synthesizer mit den Möglichkeiten der Elektronik auseinandersetze lag auch daran, dass sie sich bereits mit den Klangmöglichkeiten des Akkordeons auseinandergesetzt hatte. Sie entwickelte eigene Klänge auf Basis von Oszillatoren und Software. Dabei gehörte sie zu den Ersten, die sich mit den Möglichkeiten elektronischen Equipments als eigenständiges Klangwerkzeug auseinandersetzten, statt nur die von ihnen produzierten Klänge zu montieren. Auch ihr Instrument hat sie elektronisch getunt, sie verwendet das selbst entwickelte Extended Instrument System. »Pauline Oliveros erkannte die Notwendigkeit, zu verstehen, wie die Maschinen taten, was sie taten, anstatt einfach nur zu wissen, was sie taten. Ihr Bestreben, zum Kern der Dinge vorzudringen, zog sich durch ihre gesamte künstlerische Arbeit von den Sonic Meditations bis hin zu ihren Deep Listening-Projekten«, sagte der Komponist Alvin Lucier über sie.

Nach ihrem Abschluss machte sie aber eine akademische Karriere, während sie Musik für akustische Instrumente wie für Tonband schrieb. In den 1960er-Jahren war sie die Gründungsdirektorin des Tape Music Center am Mills College, Professorin und Direktorin des Center for Music Experiment an der University of California in San Diego. 1981 beendete sie ihre einengende akademische Laufbahn, um sich ganz ihren kreativen Möglichkeiten zu widmen: Als Komponistin, Improvisatorin, Schriftstellerin und Trägerin des schwarzen Gürtels in Karate. Letztes nicht unwichtig: Es geht um Körperlichkeit, um die Erzeugung von Aufmerksamkeit, die für Pauline Oliveros Musikverständnis von wesentlicher Bedeutung sind.

»Through Pauline Oliveros and Deep Listening I finally know what harmony is … It’s about the pleasure of making music.« (John Cage, 1989)

1952 führte der Pianist David Tudor »4’33« von John Cage zum ersten Mal auf, ein Stück, in dem keine einzige Note erklingt. Trotzdem ist in der Zeitspanne genug zu hören, gerade wenn ein Publikum anwesend ist. Natürlich kannte Pauline Oliveros Cages Stück, aber sie hatte ja ihr eigenes Gehör, empfänglich genug für die Klänge, die die Welt jeder erzeugten Musik beifügt. 1988 stieg sie für Aufnahmen in eine Zisterne und aus dem Klangerlebnis prägte sie den Begriff »Deep Listening«, ein Begriff, der untrennbar mit Pauline Oliveros verbunden ist. Für sie beschreibt er ein Hören auf jede denkbare Art – also nicht nur mit den Ohren – auf alles, was mensch hören kann. Er richtet sich an Laien und Expert*innen. Sie übertrug diesen Begriff auf ihr 1985 gegründetes Institut. Dort wird ihre Musikphilosophie in Praxis umgesetzt, eine Philosophie, die sich aus Elementen von Improvisation, graphischen Notationen, Meditation und Ritual verbunden mit Elektronik speist. Hellwaches Hören, aber auch Lernen, Heilen und das Stiften von Gemeinschaft finden sich darin verbunden. Vielleicht wabert ein wenig Esoterik darin, aber die Macht der Musik ist kaum bestreitbar und, nun ja, »die Welt ist Klang«.

Aber natürlich war auch immer das Akkordeon zur Hand – und sei es mit David Tudor zusammen auf einer Wippe, mit Lichtregie und mitsingendem Starenvogel (Duo für Akkordeon und Bandoneon, 1963f). Übrigens das Werk einer Frau in einer Zeit, die für Frauen eigentlich ganz andere Dinge vorgesehen hat als Kunst und Naturwissenschaft. Es führte, wenn auch nicht zu Weltberühmtheit, so doch zu beträchtlicher Anerkennung in Kreisen der Musik. Die Wertschätzung der Künstlerin zeigt sich auch anhand der Labels, auf der ihre Musik veröffentlicht wurde und weiter wird: beginnend mit Lovely Music, gegründet vom Mimi Johnson speziell für elektronische und experimentelle Musik, hier erschienen schon in den 1960er-Jahren erste Stücke. Und Composers Recordings Inc. brachte 1998 eine CD mit dem Titel Lesbian American Composers heraus, auf der auch Musik von Pauline Oliveros vertreten war.

Nun, es wird hoffentlich Zeiten geben, in denen Sexualität, sexuelle Orientierung einfach ein Faktum ist, Teil menschlichen Lebens. Aber das ist noch nicht so, selbst die Stonewall Riots liegen gerade mal 50 Jahre zurück. Zwar ist das gestrenge Auge der moralischen Mehrheit bevorzugt auf Schwule und Transgender gerichtet, doch auch das lesbische Leben war (und ist) nicht immer einfach. Pauline Oliveros hat sich darum offenbar nicht weiter geschert und sich ihren Raum geschaffen, einen Raum, der mehr einer Piazza glich, offen für Begegnungen aller Art. In vielen Veröffentlichungen zu Oliveros wird über ihre Sexualität geschwiegen. Es gibt allerdings ein Buch, das sich genau damit befasst, Martha Mockus’ Sounding Out: Pauline Oliveros and Lesbian Musicality. Darin zeigt sich nicht nur Oliveros Vertrautheit mit anderen Komponistinnen, deren Musik sie gefördert sehen will. Mockus beschreibt auch ein feministisches Netzwerk, das letztlich ihr Coming-out in den 1970er-Jahren ermöglichte. Das geschah in Source mit einer famosen Selbstbeschreibung: »Pauline Oliveros is a two legged human being, a female, lesbian, musician, composer among other things witch contribute to her identity. She is herself and lives with her partner Lin Barron … along with assorted poultry, dogs, cats, rabbits and tropical hermit crabs«. Dabei war Oliveros stets auch politisch interessiert und feministischer Neigungen verdächtig. »And Don’t Call Them ›Lady‹ Composers« lautete die Überschrift zu einem von ihr 1970 verfassten Artikel in der New York Times. Sie schrieb: »Why have there been no ›great‹ women composers? The question is often asked. The answer is no mystery. In the past, talent, education, ability, interests, motivation were irrelevant because being female was a unique qualification for domestic work and for continual obedience to and dependence upon men. This is no less true today.« »Warum gab es (also) keinen weiblichen Beethoven?« Die nach wie vor gerne gestellte Frage in diesem Zusammenhang ist öde ohne Ende. Und es gibt eine einfache Antwort: Es gab ja Pauline Oliveros (die Beethoven durchaus schätzte). Beethoven jedoch war lesbisch, ersichtlich in einer Postkartenserie zu berühmten Komponisten, die Oliveros und Alison Knowles in den frühen 1970er-Jahren fabrizierten. Auch da blitzt der klarsichtige Witz dieser bemerkenswerten Frau auf.

Und was ist nun mit ihrer Musik? Sie ist, ums kurz zu fassen, kaum auf einen Nenner zu bringen. Sehr sperriger Stoff ist da zu finden und sehr frei Fließendes, Musik für Ensembles, Orchester, Chor, mit und ohne Elektronik und für Akkordeon, Notiertes und Improvisiertes in allen vorstellbaren Zusammenhängen. Oliveros war ja stets aktiv, seit ihren kompositorischen Anfängen 1960 bis zu ihrem Tod 2016. Und um auf das real life zurückzukommen, das ich eingangs so denglisierend verwendet habe: Das verweist noch auf eine Aktivität Oliveros, nämlich die globale Vernetzung von KünstlerInnen per Avatar bei Second Live zu einem Metaversum der Musik. Ihr Metier war es, an Grenzen zu gehen, sie zu überschreiten, Räume zu betreten, in die vor ihr noch niemand vorgedrungen war.

Ein Rollenmodell? Unbedingt. Aber sicher keins, dem irgendwie einfach nachgeeifert werden kann. Es hat sich, im Hinblick auf die E-Musik, der Pauline Oliveros ja auch zuzurechnen ist, viel getan. Komponistinnen, sogar Dirigentinnen haben sich etabliert. In Sachen Jazz und Impro sind Frauen inzwischen ziemlich selbstverständlich. Im Bereich der elektronischen Musik gibt’s viele aufregende Klänge aller Arten zu hören, die Frauen ganz selbstverständlich verfertigen. Sie war jederzeit eine Vorstreiterin dafür, dass Frauen Dinge tun können, obwohl niemand sich vorstellen konnte, dass diese Dinge tatsächlich von Frauen getan werden können. Nur weil sie es wollen.

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