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ОглавлениеJonas Engelmann
Linda Perhacs
• ERSTE LP 1970
»Ich werde häufig gebeten, die nachhaltige Wirkung des Albums zu erklären«, so Linda Perhacs 2012 in einem Interview. »Vielleicht ist der Grund, dass es der Versuch war, mit den Harmonien der Natur in Einklang zu stehen, und das ist etwas Zeitloses, das allen gehört.« Die Rede ist von Perhacs Debüt Parallelograms, das 1970 erschienen und sofort wieder von der Bildfläche verschwunden ist. Doch irgendwie hat Parallelograms die Zeit überdauert, ohne das Wissen seiner Schöpferin ein Eigenleben geführt und erst 25 Jahre nach der Veröffentlichung seine eigentliche Wirkung entfaltet. Bis Ende der Neunziger war Perhacs nicht klar gewesen, dass ihr Debüt überhaupt irgendwen erreicht geschweige denn berührt hatte. Nachdem ihr Label sie fallengelassen hatte, als sich Perhacs nicht als die neue Joni Mitchell herausstellte und sie ohnehin wenig Lust auf ein Leben auf Tour hatte, hängte sie ihre Karriere als Musikerin an den Nagel und konzentrierte sich wieder auf die Zähne der Hollywood-Prominenz.
Dort, in einer Zahnhygiene-Praxis in Beverly Hills, hatte 1969 alles begonnen. Nach dem Abschluss der Dental Hygiene School an der University of South California, der Heirat mit dem Künstler Les Perhacs und dem Umzug nach Topanga Canyon im Umland von Los Angeles arbeitete die 1943 geborene Perhacs in der Praxis eines ehemaligen Professors in Beverly Hills, wo sie Paul Newman, Cary Grant und Henry Fonda Zahnstein entfernte. Unter den Patienten war auch der Filmkomponist Leonard Rosenman, der bei Arnold Schönberg Komposition studiert und den Score zu Rebel Without a Cause geschrieben hatte; in den späten Siebzigern sollte er für seine Musik zu Stanley Kubricks Barry Lyndon und dem Woody-Guthrie-Biopic Bound for Glory jeweils mit dem Oscar ausgezeichnet werden. Auf Rosenbergs Frage nach ihren Hobbies erzählte Perhacs ihm von Folksongs, die sie nach Feierabend komponiere und brachte ihm zum nächsten Termin ein Tape mit ihren Songentwürfen mit. Und weil in Hollywood vieles nach einem schlechten Drehbuch klingt: Schon am folgenden Morgen rief Rosenman an und bat Linda Perhacs in sein Studio, wenige Wochen später stand der Plattenvertrag mit Kapp Records, einem Sublabel von MCA. Rosenman hatte in seinem Studio aufgrund von Science-Fiction-Soundtracks, an denen er gerade arbeitete, die aktuellste Technik zur Verfügung, die sie nutzten, um mit elektronischen Effekten zu spielen, Soundloops zu entwerfen und Gesangsspuren übereinanderzuschichten. Gemeinsam entwarfen sie ein Album zwischen Acid-Folk, Psychedelic und Bluesanleihen, gebrochen durch an John Cages Radioarbeiten der 1940er-Jahre erinnernde Soundexperimente – für den elektronisch verstärkten und modifizierten Dusch-Schlauch nennen die Credits Brian Ingoldsby.
Die Texte von Perhacs sind lyrische Projektionen der eigenen Gefühlswelt auf die Natur, Songs wie »Chimacun Rain«, »Dolphin« oder »Call of the River« beschreiben Erinnerungen an die Redwood-Bäume der Kindheit in Nordkalifornien und Eindrücke von langen Spaziergängen an der Küste. Doch Textzeilen wie »Colors that are dripping« (»Morning Colors«) oder »I’m seeing silences between leaves« (»Chimacun Rain«) weisen über Natur und Liebesbekundungen hinaus. »Ich habe Musik als Farben gesehen«, hat Perhacs in einem Interview erklärt. »Ich dachte immer, jeder könnte das sehen, aber mir wurde klar, dass das nicht jeder kann. Später habe ich herausgefunden, dass es einen Namen dafür gibt, Synästhesie.« Hier liegt das eigentliche Geheimnis von Parallelograms: Perhacs hat mit Hilfe von Rosenman versucht, Farben zurück in Musik zu verwandeln. »Das Ganze sollte eine dreidimensionale Skulptur aus Musik darstellen«, erklärt sie in einem Dokumentarfilm. Dort beschreibt sie auch ihr Schlüsselerlebnis auf einer Heimfahrt vom Ehepaar Rosenman – vollkommen nüchtern, wie sie betont: »Plötzlich erschien im Himmel etwas, das ich noch nie gesehen hatte. Heute weiß ich, dass auch andere Menschen ähnliches gesehen haben. Es war eine sich bewegende Skulptur. Ich wusste, dass ich Musik sehe ohne Musik hören zu können. Ich nahm ein kleines Stück Papier und notierte, was ich gesehen hatte.« Aus diesen Notizen entstand der Song, der die Vision von Linda Perhacs am prägnantesten eingefangen hat: »Parallelograms«. Mehrere Gitarren- und Gesangsspuren legen sich übereinander, erzeugen über einen Surround-Sound-Effekt einen Kreis, in dem sich Soundloops drehen, vorwärts und rückwärts laufende Stimmenfragmente den Kreislauf aufbrechen, bis die Gitarre wieder die Oberhand gewinnt; »Quadrehedral / Tetrahedal / Mono-cyclo-cyber-cilia« singt Perhacs darüber mehrstimmig. Eine »visuelle Musikkomposition« nannte sie den Song, und: »Das ist eine echte Komposition, das andere sind Songs«. Songs wohlgemerkt, die ebenfalls zeitloser klingen als 90 Prozent aller anderen 1970 veröffentlichten Alben.
Linda Perhacs, Parallelograms (Kapp, 1970)
Das Plattenlabel war überhaupt nicht angetan und hat die mühsam im Studio erarbeiteten Sounds um alle Höhen und Tiefen bereinigt, um es fürs amerikanische Mittelwellenradio kompatibel zu machen, das Album auf billigstes Vinyl gepresst und sich jegliche Pressearbeit gespart. Perhacs soll der Legende nach ihre eigene Kopie des Albums nach kurzem Höreindruck in den Müll geworfen haben.
Ende der Neunziger veröffentlichte Michael Piper, der sich mit seinem Label The Wild Places auf obskure und verschollene Folk- und Psychedelic-Alben der Sechziger und Siebziger spezialisiert hat, das Album erstmals auf CD. Die digitale Version verbreitet sich schnell über das Internet, obwohl die schlechte Vinylpressung von 1970 zugrunde lag. Zwei Jahre später stöberte Piper die Künstlerin in Topanga Canyon auf, wo im Keller noch immer die originalen Bänder lagen, die seitdem die Basis für die zahlreichen Reissues waren, inklusive aller Höhen und Tiefen. Musiker*innen von Devendra Banhart über Julia Holter bis Sufjan Stevens haben Linda Perhacs Tribut gezollt, zu gemeinsamen Auftritten und Projekten überredet und sie nach 40 Jahren aus der Alltagsroutine ihres Dayjobs als Zahnhygienikerin befreit. 2014 hat Perhacs ihr zweites Album in 44 Jahren, The Soul of All Natural Things, veröffentlicht, 2017 folgte I’m a Harmony. Die Titel deuten es an: Dort geht’s ziemlich esoterisch zu, viel Seele, innere Ausgeglichenheit, Gott, Planeten, Geister, Stimmen der Natur etc. Eher zwei- als dreidimensional. Aber Parallelograms bleibt ein viel zu lange vergessener musikalischer Höhepunkt der Siebziger. »Semi para bolic / Semi metra bolic / Radio-larial-uni-cellular«.