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1. Literatur als Medium von Wirtschafts- und Gesellschaftskritik

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Im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags steht die Darstellung der Verflechtung von Wirtschaft, Politik und organisierter Kriminalität Italiens in der zeitgenössischen italienischen Literatur. Als Beispiele dienen zwei nach wie vor aktuelle Bestseller: der Kriminalroman Nelle mani giuste (2007), ins Deutsche übersetzt als Schmutzige Hände (2011), in dem der Richter, Schriftsteller und Journalist Giancarlo De Cataldo den Aufstieg Silvio Berlusconis thematisiert, sowie die „Dokufiction“ Gomorra: Viaggio nell’impero economico e nel sogno di dominio della camorra1 (2006) des Journalisten Roberto Saviano, die als Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra (2007) ebenfalls ins Deutsche übersetzt wurde.2 In Gomorra schildert Saviano in einer Mischung aus faktenbasiertem Insiderwissen und Fiktion die Strukturen und Geschäfte der kriminellen Organisation Camorra3 und ihre Verbindungen zu Politik und Wirtschaft.

Den Leitfaden der folgenden Analyse bildet eine der Fragen, die von den Organisatorinnen der Ringvorlesung, auf der die folgenden Ausführungen basieren, formuliert wurde: „Wie lassen sich gegenwärtige Theorien der Kapitalismuskritik auf literarische Texte anwenden und welche Leerstellen der Theorie füllt wiederum die Literatur?“ Der Schwerpunkt der Ausführungen liegt auf dem Themenfeld ‚Kapitalismus und Moral‘, das insbesondere in Nelle mani giuste im Zusammenhang mit dem darin geschilderten Aufstieg Berlusconis eine zentrale Rolle spielt. Dieser Themenkomplex wird ergänzt durch einen Exkurs zu ‚Kapitalismus und Ökologie‘; hier liegt der Fokus auf Praktiken der illegalen Müllentsorgung, wie sie Saviano in Gomorra eindrücklich vor Augen führt.

Der Auseinandersetzung mit den literarischen Beispielen geht eine kurze theoretische Einführung voraus, in der dargelegt wird, welche Aspekte der Kapitalismuskritik als Folie für die Analyse dienen und welche Bezugspunkte sich konkret zu den beiden gewählten Werken ergeben. Die Betrachtung der beiden Textbeispiele kreist schließlich im Wesentlichen um die Frage, welche Möglichkeiten gerade literarische – und vor allem fiktionale – Texte bieten, Kritik an wirtschaftlichen und politischen (Fehl-)Entwicklungen zu üben, sei es durch eine Mischung von Fakten und Fiktion oder durch die Charakterisierung der Figuren.4

In Bezug auf die grundsätzliche, viel diskutierte Frage nach Grenzen und Möglichkeiten der Literatur bei der Darstellung gesellschaftlicher ‚Realitäten‘ lässt sich an Überlegungen des Schriftstellers und Journalisten Enno Stahl anknüpfen, dem zufolge die literarische Darstellung der ‚Wirklichkeit‘

eine (vom Autor interpretierte/analysierte) Version der gesellschaftlichen Realität anbietet und so überhaupt erst kritisches Potential entfalten kann. Um eine blanke Abbildung der Wirklichkeit kann es heute also nicht mehr gehen, weder wirkungs- noch produktionsästhetisch. (108, Hervorhebung im Orig.)

Stahl bringt explizit die ‚empirischen‘ Autorinnen und Autoren als ‚Interpreten der Wirklichkeit‘ ins Spiel; vergleichbare Überlegungen finden sich ebenfalls in den Ausführungen der Narratologin Liesbeth Korthals Altes, die sich – in Anlehnung an Aristoteles – mit dem auktorialen ethos auseinandersetzt.5 Korthals Altes zufolge sei verstärkt eine Selbstdarstellung von Autorinnen und Autoren zu beobachten, für die soziales, gesellschaftliches Engagement und eine kritische, engagierte Haltung zentral seien:

In reaction, it seems, to what was perceived as postmodern ‚anything goes‘ irony and disengagement, writers, like their fellow artists working in other mediums, have voiced their social or ethical commitment through their literary works, often alongside forms of social activism. Motivations for writing, such as wanting to make suppressed voices heard, to disclose history’s forgotten facets, or to defend causes such as homosexuality, are now widely recognized as central concerns of literature, rather than as exogenous, ‚heteronomous‘ ones. An author’s protestations about his or her social mission usually require as a backing that she or he radiate a convincing ethos of sincerity, experience-based authority, and so on. (9)

Sowohl De Cataldo als auch Saviano melden sich auch außerhalb ihrer gesellschaftskritischen Romane zu Wort. So wird De Cataldo beispielsweise in einem Artikel in der ZEIT explizit als Streiter für demokratische Werte vorgestellt;6 Saviano wiederum erscheint durch die unmittelbaren Folgen des Erscheinens von Gomorra – Morddrohungen durch die Camorra und ein ständiges Leben unter Polizeischutz an versteckten Orten – als besonders glaubwürdig; zudem äußert er regelmäßig in Zeitungsartikeln oder auch im Fernsehen Kritik an aktuellen politischen Entwicklungen in Italien.7 Die in außerfiktionalen Zusammenhängen zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Positionierungen können entsprechend auch auf die Rezeption der (fiktionalen) Werke zurückwirken; besonders deutlich wird dies am Beispiel von Gomorra, in dem die Grenze zwischen Erzähler- und Autorfigur bereits von der Anlage des Textes her durchlässig ist und sich fiktionale Erzählstrategien mit konkreten biographischen, faktenbezogenen Anteilen mischen.

Literarische Perspektiven auf den Kapitalismus

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