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Zielsetzung und Beiträge des vorliegenden Bandes

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Wo mit Titeln wie Literatur und Wirtschaft oder Economics and Literature eine gegenseitige Durchdringung beider Teilbereiche zum Ausdruck gebracht wird, richtet der vorliegende Band das Augenmerk dezidiert auf die Literatur und, im engeren Sinne, auf die Darstellungsinhalte und -weisen literarischer Texte. Dieser Fokus ermöglicht im Gegenzug die Betrachtung einer Bandbreite von Gattungen – darunter Romane, TV-Serien, Theaterstücke und Song Lyrics – sowie verschiedener nationaler Literaturen und trägt damit dem gegenwärtigen „Kapitalismus der ‚postnationalen Konstellation‘“ (Preglau 23) Rechnung. Die Beiträge sind als Schlaglichter in einem Band konzipiert, der keinen Anspruch auf eine allumfassende Darstellung erhebt; sie regen allerdings an vielen Stellen dazu an, Querverbindungen herzustellen und ergeben so ein facettenreiches Gesamtbild zeitgenössischer Literatur. Auch der gewählte zeitliche Fokus auf literarische Werke der Gegenwart unterscheidet sich von der diachronen Betrachtung vergleichbarer Publikationen; er erst macht es aber möglich, sich dem Gegenstand dieses Bandes in der gegebenen Breite und Tiefe zu nähern. Schließlich sollte aus den Darlegungen dieser Einleitung auch ersichtlich geworden sein, warum im Titel dieses Bandes gezielt das Schlagwort ‚Kapitalismus‘ gewählt wurde. Zum einen verweist dies auf eine spezifisch historische Situierung des Untersuchungsgegenstandes der folgenden Beiträge – gelegen ist uns weniger an Reflektionen über die Wirtschaft als solche als vielmehr an der Situation des Kapitalismus im 21. Jahrhundert im Spiegel der Literatur. Zum anderen macht der Begriff deutlich, dass das Erkenntnisinteresse dieses Bandes in der kapitalistischen Wirtschaftsform als Gesellschaftsform liegt. Es wäre daher kurzsichtig, wirtschaftliche Prozesse nicht in Verbindung mit weiteren gesellschaftlichen, politischen, kulturellen, oder ökologischen Fragen zu denken, die im Folgenden adressiert werden.

So beleuchtet die erste Sektion des Sammelbandes, „Zu Moral und Unmoral im Kapitalismus“, den Kapitalismus als moralisches Problem. Diese Sektion nimmt vor allem die Auswirkungen dieses Wirtschafts- und Gesellschaftssystems in den Blick, indem sie illustriert, wie Menschen unter den Ungerechtigkeiten desselben leiden. Dabei liefern sie eine differenzierte Darstellung davon, was, wie Rahel Jaeggis provokant formulierter Essay-Titel fragt, am Kapitalismus falsch ist.

Stephanie Neu-Wendel eröffnet den Band mit ihren Überlegungen zum italienischen Kriminalroman der Gegenwart am Beispiel von Giancarlo De Cataldos Nelle mani giuste (2007) und Roberto Savianos Gomorra (2006), die die Verflechtung von Wirtschaft, Politik und organisierter Kriminalität Italiens dokumentieren. Diese Romane, so die Autorin, bedienen sich einer Mischung aus faktenbasiertem Insiderwissen und Fiktion, um die Folgen illegaler Wirtschaftskreisläufe für Mensch und Umwelt, beispielsweise die Umweltverschmutzung in Süditalien, zu kritisieren. Annika Gonnermann konzentriert sich in ihrem Beitrag auf die dem Kapitalismus inhärenten Beschleunigungstendenzen und zeichnet die individuellen wie gesellschaftlichen Folgen einer auf Effizienz fixierten Logik im Theaterstück Allelujah! (2018) des Briten Alan Bennett nach. Zentral sind hierbei Fragen zum gesellschaftlichen Umgang mit Krankheit und Alter und zu den Folgen von Margaret Thatchers neoliberaler Politik im Großbritannien der 1980er Jahre. Katharina Motyl untersucht, welchen Zusammenhang die TV-Serie The Wire (2002-2008) zwischen der neoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik und der ‚punitiven Revolution‘ in den USA sieht. Besonders im Fokus stehen dabei, so Motyl, die komplexen Erzählstrukturen der Serie, die sich signifikant von anderen US-amerikanischen Krimiserien ihrer Ära unterscheiden und den Zuschauer_innen ein hohes Maß an Reflexion abverlangen. Caroline Lusin bietet mit ihren Überlegungen zur BBC-Serie McMafia (2018) einen Exkurs in die internationale Finanzwelt. Sie analysiert, wie die Serie mithilfe ihres Protagonisten, einem Mafia-Sohn, der sich im Spannungsfeld zwischen familiärer Loyalität und geschäftlicher Unmoral bewegt, die Netzwerke der globalen Mafia im Zeitalter der Finanzialisierung kartographiert. Daraus speist sich das kritische Potential der Serie: Sie zeigt auf, in wie vielen Bereichen des Lebens bereits eine kommodifizierende Logik Einzug gehalten hat.

Vor dem Hintergrund der unweigerlichen Teilhabe von Literatur an kapitalistischen Prozessen,1 aber auch der Feststellung, dass etablierte Formen der Kapitalismuskritik heutzutage abgenutzt oder inadäquat erscheinen, bringt die zweite Sektion dieses Bandes „Über das Wie der Kritik“ Beiträge zusammen, die literarische Formen der Kapitalismuskritik in den Vordergrund ihrer Überlegungen stellen. Fast zeitgleich zu unserer Ringvorlesung zeigte die Mannheimer Kunsthalle eine zweiteilige Ausstellung unter dem Titel „Konstruktion der Welt: Kunst und Ökonomie“, kuratiert von Eckhart Gillen, Ulrike Lorenz und Sebastian Baden.2 Auch die Kunstausstellung legte einen Vergleich zwischen Formsprachen in der Auseinandersetzung von Künstler_innen mit der Wirtschaft nahe. Was der Kontrast zwischen Kunstwerken aus den Jahren 1919-1939 und den Jahren 2008-2018 vor Augen führte, war, dass die in der Regel schnell erschließbaren Ästhetiken und Botschaften der Zwischenkriegsjahre Darstellungsweisen gewichen sind, die auf Ambiguität und Komplexität setzen.

Ein solches Spiel mit Form und Aussage untersucht auch Katja Holweck in ihren Ausführungen zur Anthologie Mindstate Malibu: Kritik ist auch nur eine Form von Eskapismus (2018). Mindstate Malibu stimmt auf den ersten Blick in die Parolen des Neoliberalismus mit ein; tatsächlich aber bedient sich die Anthologie, wie die Autorin zeigt, der ‚subversiven Affirmation‘, einer Strategie, die das System von innen heraus affirmiert, bis es zur ‚Kenntlichkeit entstellt‘ ist. Setzt der Neoliberalismus ohnehin schon auf Performance – auf Selbstdarstellung und Quantität – so treiben die Beitragenden von Mindstate Malibu die neoliberale Oberflächenästhetik also auf die Spitze und darüber hinaus. Sina Schuhmaier lotet mit ihrem darauffolgenden Beitrag das kritische Potential zeitgenössischer britischer Songtexte aus. Im Fokus ihres Aufsatzes stehen die Alben Let Them Eat Chaos (2016) von Kae Tempest und Made in the Manor (2016) von Kano, die beide die neoliberale Reduktion von Wert und Werten auf Möglichkeiten der Wertschöpfung zum Ausgangspunkt ihrer Kritik nehmen. Schuhmaier betrachtet dabei anhand der Texte Kanos und des Grime-Genres, das dieser repräsentiert, ebenfalls den Aspekt der Performance des kapitalistischen, und spezifisch neoliberalen, Systems und zeigt auf, inwieweit eine gezielte Inszenierung des Systems dessen Entwertungspraktiken und Ausschlussprozesse offenlegt. Schließlich wendet sich auch Olga Vrublevskaya Fragen der Darstellung zu; sie beleuchtet anhand des Theaterstückes „Insourcing des Zuhause: Menschen in Scheiss-Hotels“ (2002) allerdings, wie der Autor und Regisseur René Pollesch von gängigen Repräsentationspraktiken Abstand nimmt. So verhandelt Polleschs selbstreflexive Theaterpraxis in „Insourcing des Zuhause“ in der Aneignung eines wissenschaftlichen Vorlagetextes nicht nur neoliberale Arbeitsverhältnisse und die Durchökonomisierung aller Lebensbereiche, sondern auch die Bedingungen im Theater, wie sie die Mitwirkenden des Stückes erfahren. Die Autorin geht daher einer Kapitalismuskritik auf zwei Ebenen nach, die sich sowohl am Sujet des Stückes als auch an Polleschs Theaterkonzeption selbst festmachen lässt.

Die Beiträge der dritten Sektion „Von Katastrophen, Untergangsszenarien und (mangelnden) Alternativentwürfen“ stellen verschiedene literarische Ansätze vor, die die desaströsen Folgen des Kapitalismus für Mensch und Natur ins Zentrum ihrer Betrachtung rücken. Dabei fragen sie stets auch danach, welches Licht die untersuchten Werke auf die Verfügbarkeit von Alternativentwürfen und auf die Möglichkeit einer Überwindung des Status quo werfen. Mark Fishers viel zitierte These über den kapitalistischen Realismus stellt dabei einen wiederkehrenden Bezugspunkt für die Diskussionen dar. Johannes Fehrle arbeitet heraus, wie Margaret Atwoods dystopischer Roman Oryx and Crake (2003) die ineinandergreifende Ausbeutung der menschlichen und nicht-menschlichen Natur im Kapitalismus sowie ihre Konsequenzen für das Leben auf dem Planeten darstellt. Er zeigt damit auf, wie der Roman die im Kontext der Anthropozän- beziehungsweise Kapitalozän-Debatte in der Theorie erörterten Problematiken fiktional exploriert. Dabei stellt er fest, dass der Roman trotz seiner weitsichtigen Kritik einer Gruppe dystopischer Erzählungen angehört, die letztendlich dem von Fisher konstatierten kapitalistischen Realismus verhaftet bleiben. Im darauffolgenden Beitrag wendet sich Lisa Schwander Arundhati Roys Roman The Ministry of Utmost Happiness (2017) zu, der die sozialen und ökologischen Auswirkungen der Wachstumspolitik Indiens der vergangenen Jahrzehnte anprangert. Sie macht deutlich, wie der Roman durch ein selbstreferentielles Spiel mit literarischer Form unterstreicht, dass Ansätze für Alternativen zum neoliberalen Kapitalismus im postkolonialen Indien zwar sehr wohl zu finden seien, deren Erwägung als ernstzunehmende, zukunftsweisende Handlungsoptionen aber durch eine scheinbar unüberwindbare ideelle Verflechtung von ‚Entwicklung‘ und ‚Fortschritt‘ mit einer kapitalistischen Steigerungslogik von vornherein ausgeschlossen werden. Im Zentrum von Patrick Esers Beitrag stehen mit Sergio Chejfecs El Aire (1992) und Gabriela Cabezón Cámaras La virgen cabeza (2009) zwei Beispiele der jüngeren argentinischen Literatur, denen der Autor zwei frühe literarische Auseinandersetzungen mit der kapitalistischen Moderne aus der Romania entgegenstellt. Mit dieser Einbettung rückt eine aussagekräftige Gemeinsamkeit der gegenwärtigen Beispiele in den Fokus. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit – eine literarische Untergangsfantasie auf der einen, ein utopischer Gegenentwurf zum gegenwärtig Gelebten auf der anderen Seite –, so macht Eser deutlich, weisen beide ein Wegbrechen der Zukunftshorizonte als charakteristisch für die Gesellschaft des spätmodernen Kapitalismus aus. Wurde diese Sektion mit der Betrachtung einer Fiktion eingeleitet, die dystopische und postapokalyptische Züge vereint, so endet sie mit Marlon Liebers Analyse von Colson Whiteheads Zombieroman Zone One (2011) mit einem dezidiert postapokalyptischen Szenario. Indem er die Figur des modernen Zombies in ihrem historischen Entstehungszusammenhang betrachtet, argumentiert er dafür, sie als Sinnbild für die Situation der von Marx beschriebenen relativen Überbevölkerung zu lesen und die durch die Zombies hervorgerufene Zerstörung als Niedergang der kapitalistischen Ordnung anzusehen. Dabei zeigt er jedoch auf, dass die Gattung der Zombieerzählung, charakterisiert durch ihr Unvermögen, die Erzählung zu einem Abschluss zu bringen, auf eine Krise revolutionären Denkens hinweist, in der ein Entwurf einer alternativen Organisation der Produktion ein dringliches Desiderat darstellt.

Bei all ihrer Unterschiedlichkeit weisen die besprochenen Werke die Literatur als vitales Medium der Kapitalismuskritik aus. Dabei zeigen die in ihnen verhandelten Themen zugleich auf, wie dringlich eine solche Kritik aktuell ist. Daran, dass sich die Literatur auch in Zukunft mit dieser Aufgabe konfrontiert sehen wird, kann es keinen Zweifel geben: Hinsichtlich der fundamentalen Ungleichverteilung, die der Kapitalismus generiert – auf globaler ebenso wie auf lokaler Ebene –, ist kein Ausgleich in Sicht; der voranschreitende Klimawandel gestaltet sich weiterhin als drohender Gegenwarts- und Zukunftshorizont, aber auch die verschärfte Prekarität, die sich etwa im Zuge der aktuellen ‚Corona-Krise‘ abzeichnet, legt nahe, dass sich der Kapitalismus in den kommenden Jahren weiterhin der Frage nach seiner Legitimation zu stellen haben wird.

Literarische Perspektiven auf den Kapitalismus

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