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Kapitalismus und Kapitalismuskritik, Literatur und Literaturwissenschaft im beginnenden 21. Jahrhundert

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Wie verschiedentlich bemerkt, ist Kapitalismuskritik en vogue im frühen 21. Jahrhundert. So verweisen etwa Dirk Hempel und Christine Künzel in ihrem Sammelband ‚Denn wovon lebt der Mensch?‘: Literatur und Wirtschaft (2009) auf Debatten um eine „Renaissance marxistischer Ideen“ (15) in Deutschland. Ähnlich leiten Klaus Dörre, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa ihre soziologischen Überlegungen zum Kapitalismus mit der Beobachtung ein, „[w]ohin man auch schaut: Kapitalismuskritik ist urplötzlich zur Modeerscheinung geworden.“ (9)1 Einer der Gründe für den enormen Zuwachs kapitalismuskritischer Überlegungen sind sicherlich die in den vergangenen Jahren gehäuft und unübersehbar auftretenden mit dem Kapitalismus verbundenen Krisenerscheinungen. Fordert die Finanzkrise des Jahres 2008 dazu heraus, den finanzmarktgetriebenen, deregulierten Kapitalismus zu hinterfragen, so unterstreicht das seit der Jahrtausendwende mit neuer Dringlichkeit diskutierte Problem des Klimawandels die Notwendigkeit einer Abkehr von kapitalistischen Praktiken, die untrennbar mit der Ausbeutung der Natur verbunden sind – eine Position, die durch die ‚Fridays for Future‘-Bewegung prominent vertreten wird. Doch auch über diese zwei konkreten Krisendiskurse hinaus hat ein kritisches Nachdenken über den Kapitalismus, insbesondere in seiner derzeitigen, unter dem Stichwort des Neoliberalismus verhandelten Form, Konjunktur.2

Angesichts der unter dem Begriff des Neoliberalismus zusammengefassten Tendenzen, die seit den 1980er Jahren die Ausrichtung aller Lebensbereiche an einer kapitalistischen Effizienz- und Profitlogik auf die Spitze getrieben haben, drängt sich, so legt etwa David Harveys Kleine Geschichte des Neoliberalismus (2005) nahe, eine kritische Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus geradezu auf. Diese vielbeschriebenen Tendenzen beinhalten unter anderem die Privatisierung vormals öffentlicher Bereiche und Güter mit dem Ziel, „der Kapitalakkumulation neue Bereiche zu erschließen, die bis dato als dem Profitkalkül entzogen galten“ (Harvey 198), wie zum Beispiel den der Sozialleistungen. Sie beinhalten ferner die Verstärkung transnationaler Wirtschaftsverflechtungen durch Globalisierungsprozesse, oder die zunehmende Bedeutung des Finanzsektors und gehen einher mit der Hervorhebung der Eigenverantwortung des Individuums für ein gelingendes Leben, dem Druck zur Effizienzausrichtung und Selbstoptimierung, sowie mit einem Weltbild, das den Markt „als geeignete Leitinstanz – ja als ethisches Leitprinzip – für alles menschliche Handeln“ (ebd. 205) betrachtet. Wie Harvey unmissverständlich aufzeigt, werden dabei die mit dem Kapitalismus von jeher verbundenen sozialen und ökologischen Probleme in neue Höhen getrieben. Er beschreibt etwa, wie, befördert durch kurzfristige, an bestimmte Aufgaben geknüpfte Arbeitsverhältnisse und die zunehmende Mobilität des Kapitals, im Neoliberalismus „der Prototyp der ‚disponiblen Arbeitskraft‘ die weltwirtschaftliche Bühne“ (209) betritt, die gezwungen ist, jedwede Arbeitsbedingungen zu akzeptieren, um der allzeit drohenden Arbeitslosigkeit zu entgehen.3 Zentraler Aspekt der Neoliberalisierung, so Harvey, ist die Umverteilung von Reichtum durch einen Prozess, den er in Anlehnung an Marx‘ ursprüngliche Akkumulation als „Akkumulation durch Enteignung“ (198) beschreibt. Er weist beispielsweise darauf hin, dass ein strategisches Orchestrieren von Schuldenkrisen dazu dient, Reichtum von armen zu ohnehin schon reichen Ländern umzuverteilen (vgl. 200-1), der neoliberale Staat zum Agenten einer Umverteilung von unten nach oben wird, anstatt sozio-ökonomische Gefälle innerhalb der Bevölkerung auszugleichen (vgl. 203), und der Finanzsektor als einer der bedeutendsten „Mechanismen der Umverteilung mittels Spekulation, Ausplünderung, Betrug und Diebstahl“ (199) fungiert.

Dass ein solches System in vielerlei Hinsicht Anlass zu Kritik bietet, liegt auf der Hand. Einen imaginativen Spielraum für solche Kritik bietet die Literatur. Dabei führt sie zum einen klassische Genres fort, etwa den Industrieroman der 1830-1850er Jahre; zum anderen kristallisieren sich neue Genres heraus, die sich dezidiert mit dem neoliberalen Kapitalismus des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts auseinandersetzen. Im anglo-amerikanischen Raum zum Beispiel prägte der Journalist Sathnam Sanghera den Begriff ‚crunch lit‘ für ein Genre, das, wie der Name schon andeutet, im Kontext der globalen Finanzkrise von 2007 bis 2008 entstand – crunch referiert auf credit crunch, zu Deutsch Kreditkrise (vgl. Shaw 7). Gründete das Genre zunächst auf „financial confessional narratives“ der Insider des Londoner Finanzgeschehens und beleuchtete die unethischen Verhältnisse und illegalen Machenschaften innerhalb dieser Welt, so deckt der Begriff crunch lit inzwischen eine Bandbreite fiktionaler Abhandlungen zur Finanzkrise ab (vgl. ebd.).

Solche Genres sind Betrachtungsgegenstand einer Ausrichtung der Literaturwissenschaft, die sich mit dem Verhältnis zwischen literarischen Texten und dem kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem befasst. Neben spezifischen Genres (vgl. beispielsweise Shaw) stehen etwa Figuren wie die des Unternehmers (vgl. beispielsweise von Matt) oder ökonomische Motive wie das des Geldes (vgl. beispielsweise Hörisch) im Zentrum literatur- und kulturwissenschaftlicher Analysen. Gleichsam (und mitunter im Zusammenspiel mit den genannten Gesichtspunkten) finden sich Ansätze, die wirtschaftlichen Prozessen und Theorien aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektive begegnen (vgl. beispielsweise Vogl), auf Gemeinsamkeiten der Systeme Literatur und Ökonomie hinweisen oder das Feld der Literatur im Kontext marktwirtschaftlicher Zusammenhänge untersuchen.4 Wichtige Impulse innerhalb dieses Forschungsgebiets gingen unter anderem vom sogenannten ‚new economic criticism‘ aus. Unter diesem Begriff fassten Martha Woodmansee und Mark Osteen in den frühen 1990er Jahren einen Ansatz, der sich der wechselseitigen Betrachtung von Literatur und Wirtschaft verschreibt und sowohl literarische Texte anhand wirtschaftlicher Denkfiguren als auch die Literarizität wirtschaftlicher Diskurse studiert (vgl. Urbatsch 567). In einer solch interdisziplinären Tradition verorten lässt sich ganz aktuell beispielsweise der Sammelband Economics and Literature: A Comparative and Interdisciplinary Approach (2018), herausgegeben von Ҫınla Akdere und Christine Baron, der Perspektiven der Literatur- und Wirtschaftswissenschaft vereint. Auch weitere Studien der vergangenen Jahre stellen das wechselseitige Verhältnis zwischen Literatur und Wirtschaft heraus, beispielhaft anzuführen wäre der gleichnamige, bereits genannte Sammelband ‚Denn wovon lebt der Mensch?‘: Literatur und Wirtschaft von Dirk Hempel und Christine Künzel, der neben der „Wirtschaft ‚in der‘ Literatur“ auch die „Literatur ‚als‘ Wirtschaft bzw. Wirtschaft ‚als‘ Literatur“ betrachtet (Hempel/Künzel 16-7, Hervorhebung im Orig.).

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