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5. Gegen das Primat der Zeit: Die Betonung des (Theater-)Raumes

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In seinen Überlegungen vertritt Hartmut Rosa die Überzeugung, dass der Raum als solcher innerhalb des Kapitalismus zunehmend an Bedeutung verliert, denn die Zeit und nicht der Ort, bestimmt Gewinn und Umsatz – etwa beispielsweise bei der Entwicklung neuer Güter, beim Kauf von Aktien oder bei der Lieferung von Produkten:

[D]er Raum [verliert] für die meisten sozialen Handlungen und Interaktionen seine vorrangige Bedeutung. Dies wird durch die Tatsache eher bestätigt als widerlegt, dass gerade aufgrund dieser lokalen und räumlichen ‚materiellen‘ Bedeutungslosigkeit den sekundären Qualitäten des Raums mehr Bedeutung zukommt. Da es zum Beispiel nicht länger ökonomisch ins Gewicht fällt, wo ein Call Center eröffnet wird, kann man es genauso gut in einer ökologisch attraktiven Umwelt ansiedeln. (Rosa 61)

Dieser kapitalistischen Akzentuierung der Zeitachse setzt Allelujah! eine Neu-Gewichtung des Raumes gegenüber: Theater als sozialer Treffpunkt von Publikum und Schauspieler_innen ist explizit im Raum verhaftet. Anders als Romane, Lyrik, Filme und Fernsehserien zeichnet sich das Drama vor allem durch seine Raumhaftigkeit aus, die laut Erika Fischer-Lichte erst durch die Aufführung performativ entsteht: Räumlichkeit „existiert nicht vor, jenseits oder nach der Aufführung, sondern wird – ebenso wie Körperlichkeit und Lautlichkeit – immer erst in der und durch die Aufführung hervorgebracht“ (187). In ihrer Ästhetik des Performativen (2004) betont Fischer-Lichte das ‚Ereignis‘ des Theaters als solches:

Es gibt kein ‚Spiel‘ auf der Bühne, das so tut, als fände es in Abwesenheit eines Publikums statt, sondern eine produktive ‚Feedback-Schleife‘ zwischen der Performanz der Akteure und den unmittelbaren Reaktionen ihrer Zuschauer. Zeit fügt sich nicht zum Bogen einer ‚Erzählung‘, sondern stiftet Form durch ‚Rhythmus‘ und ‚Time Brackets‘. („Sanfte Wende“)

Ohne die Form des Raums festlegen zu wollen (Art der Bühne, Verhältnis Zuschauer-Schauspieler, Bewegungsradius der Darsteller, et cetera) besteht Fischer-Lichte auf dem zentralen Aspekt des Raums für ihren Begriff des Performativen: Es bedarf eines Raumes, um Aufführungen überhaupt erst stattfinden zu lassen. Aus dem „geometrischen Raum“, dem Theaterhaus, der Bühne, den Sitzreihen des Publikums, entsteht der „performative Raum“, der die Wahrnehmung des Publikums steuert (vgl. 187).

Alan Bennetts Allelujah! scheint sich der Wirkung des Theaters als Plattform für Gesellschaftsanalyse und -kritik bewusst, denn zu Ende des Stückes eröffnet das Drama eine Meta-Ebene, die genau diese Dimension verhandelt. Nachdem der ursprünglich ach-so leidenschaftlich für das Krankenhaus kämpfende Salter zugibt, nach der Schließung des Instituts die Gebäude für seine eigene Immobilienfirma abzugreifen, tritt Colin ein letztes Mal auf und eröffnet dem Publikum, was mit den Figuren passiert, nachdem der Vorhang gefallen ist:

Salter notwithstanding, the sale represents a healthy capital gain for NHS funding, the hospital having reinvented itself as a boutique hotel, with, in a graceful acknowledgement of its previous existence, the principal suites named after Florence Nightingale and Edith Cavell. For the moment, its best-known nurse remains uncommemorated, though a play about her is threatened at the local theatre. (85)

Mit der Ankündigung, das lokale Theater werde Gilchrists Biographie auf die Bühne bringen, weißt Allelujah! nicht nur über seine eigenen textuellen Grenzen hinaus, zurück in die extratextuelle Wirklichkeit der Zuschauer, sondern betont noch einmal die Stellung des Theaters im gesellschaftlichen Diskurs: Es schafft Räume zur Diskussion gesamtgesellschaftlicher Fragen wie die Zukunft des NHS und zur Aufarbeitung von Konflikten wie die Bewahrung der Menschenwürde in Zeiten konstanter kapitalistischer Beschleunigung und neoliberaler Profitmaximierung.1 Dabei ist seine Raumhaftigkeit von besonderer Bedeutung. Allein die Tatsache, dass Aufführungen im Raum verhaftet sind, und nicht beliebig oft reproduzierbar, positioniert das Theater als kapitalismuskritische Instanz, die sich dem Effizienzdiktat widersetzt. Allelujah! stößt also nicht nur inhaltliche Denkprozesse an, sondern verweigert sich als Kunstform den Logiken, die es selbst kritisiert.

Literarische Perspektiven auf den Kapitalismus

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