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2. Neoliberale Weltbeziehungen: Allelujah!, Margaret Thatcher und die Privatisierung

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Allelujah! liefert die ‚praktischen‘ Anschauungsbeispiele zu Rosas theoretischen Vorüberlegungen: Das Stück portraitiert eine neoliberale Welt, in der das Leben zunehmend als Geschäftsvorgang begriffen wird und schildert somit Rosas „[s]chädliche Formen der Desynchronisierung“ (104). Dies wird bereits in der allerersten Szene des Dramas deutlich. Mrs Maudsley, Neu-Bewohnerin des Beth und „an old lady in a wheelchair, very decrepit but with a good voice“, leitet das Stück mit den Worten „[i]t was my house“ (3) ein, die sie sogleich noch einmal wiederholt. Noch fehlt den Zuschauern der Kontext, um diese Aussage richtig einzuordnen. Auf die Frage, wem das Haus mittlerweile gehöre, antwortet Mrs Maudsley später, „[t]hieves“ (14), und erweckt damit den Eindruck, das Haus sei ihr von Dieben gestohlen worden. Das Tragikomische dieser Szene entfaltet sich beim Auftritt von Mrs Maudsleys Verwandtschaft, ihrer Tochter Mrs Earnshaw und deren Ehemann Mr Earnshaw. Schnell wird klar, dass Mrs Maudsley mit „thieves“ ihre eigene Tochter und ihren Schwiegersohn meint, die vor sechs Jahren das Haus auf deren Namen überschrieben haben:

EARNSHAW. Six years ago she made over the house.

MRS EARNSHAW. Only because she wanted to.

EARNSHAW. In order to avoid estate duty.

MRS EARNSHAW. Perfectly legally. The Queen Mother did it. (15)

Dass der Eigentümerwechsel nicht ganz so einvernehmlich stattgefunden hat, wie Mr und Mrs Earnshaw so nachdrücklich behaupten („she made over the house“, Hervorhebung der Verf.), kann das Publikum aufgrund der übereifrigen Rechtfertigungen des Paares erahnen. Gegenüber Salter geben sich die Eheleute alle Mühe, den Vorgang als harmonisch darzustellen. Mrs Earnshaws ellipsenartiger Einschub, „[o]nly because she wanted to“, soll noch einmal die innerfamiliäre Harmonie unterstreichen, die offenkundig für Mrs Maudsley – sie spricht über ihre Familie als Diebe – bereits längst nicht mehr existiert. Die Überbetonung der Legalität des Vorgangs („[p]erfectly legal[]“) dient lediglich als rhetorisches Feigenblatt: Dem Paar ist scheinbar durchaus bewusst, dass sie zwar rechtlich gesehen nichts falsch gemacht haben, dass sie aber moralisch durchaus belangt werden können. Sie haben Mrs Maudsley, die nach ihren eigenen Angaben topfit ist und einen Appetit „wie ein Scheunentor hat“1 („like a navvy“, 14), in ein Altenheim abgeschoben, in der Hoffnung, Steuern zu sparen. Ihr schlechtes Gewissen kann dann auch der Verweis auf die Queen Mother nicht beruhigen: Auch wenn diese Steuerspar-Praxis vom Königshaus, scheinbar der höchsten gesellschaftlichen Instanz Großbritanniens, betrieben wird, so wird sie deshalb nicht weniger moralisch zweifelhaft. Selbst in der ‚besseren Gesellschaft‘ diktiert kapitalistische Effizienz den Familienalltag.

Das Interesse der Earnshaws an Mrs Maudsley ist rein finanzieller Natur. Schon die Namensgebung verrät, wie die Loyalitäten liegen: Maudsley gehört nicht zu Earnshaw. Die altersschwache Rollstuhlfahrerin wird längst nicht mehr als Familienmitglied, sondern als Investition angesehen.

EARNSHAW. She put the house in our name and come September it will be ours free of tax …

SALTER. I am familiar with the arrangement.

EARNSHAW. I told you. Everybody does it. Only what I want is reassurance that she’s going to last those three months.

SALTER. This is a hospital. We make people … last … as long as possible. And once they’ve dealt with the gallstones she may be out quite soon. (15)

Die vorrangige Sorge der Eheleute gilt nicht der an Gallensteinen erkrankten Mutter und Schwiegermutter, sondern der Erbschaftssteuer, die bei dem frühzeitigen Tod von Mrs Maudsley, das heißt vor September, anfallen würde.2 Während seine Frau noch moralische Skrupel hat, hat Mr Earnshaw keine Hemmungen, mit Verweis auf die scheinbare Allgemeingültigkeit der Steuerspar-Praxis diese Überlegungen laut auszusprechen: „I told you. Everybody does it.“ Für ihn muss Mrs Maudsley noch drei Monate am Leben bleiben, der Rest interessiert den Hausbesitzer wenig.

Dass Mrs Maudsleys Los kein Einzelschicksal ist, erfährt das Publikum von Dr. Valentine: „unwaged, unpensioned, disendowed of their homes“ (16), so fasst er das Schicksal der Bewohner_innen zusammen, die alle losgelöst von ihren Besitztümern und ihrem alten Leben haltlos dahintreiben. Ihre Stellung als Individuen haben diese Rentner_innen eingebüßt – ihre Familien betrachten sie als Hindernisse auf dem Weg zum Erbe. Entsprechend ungehalten reagieren die Earnshaws auf den – aus ihrer (steuerlichen) Sicht – viel zu frühen Tod der Rentnerin.

VALENTINE. She slept away. Try to think of it as a blessing.

EARNSHAW. A blessing to her maybe. Not to us. We’ve lost money. Where’s the blessing in that? (59)

Die Verwendung des Wortes „blessing“ ermöglicht einen Vergleich der Perspektiven zwischen Valentine und den Eheleuten und betont deren jeweilige Prioritätensetzung: Während ersterer auf das Glück eines friedlichen Entschlafens ohne Schmerzen hinweist, ärgert sich Mr Earnshaw über sein verlorenes Geld („We’ve lost money“), also über die nun anstehende Erbschaftssteuer: „Where’s the blessing in that?“ Dass sie eigentlich aus dem verlängerten körperlichen Leiden der (Schwieger-)Mutter Kapitel schlagen wollten, ignoriert das Paar. Menschliches Leben wird hier mit finanziellen Verlusten verglichen und verliert in diesem Kontext folgerichtig nicht nur seine Würde, sondern auch sein bedingungsloses Existenzrecht. Mrs Maudsleys Leben, beziehungsweise ihr Tod, lassen sich in die finanzielle Situation ihrer Tochter und ihres Manns übersetzen: Ihr verfrühter Tod kostet Geld. Mr Earnshaws Einspruch, „we want compensation“ (ebd.), ist dieser Logik verhaftet und daher für ihn nur folgerichtig. Nun ist er es, der sich als der Ausgeraubte versteht: „Robbed, that’s what we’ve been. By an eighty-eight-year-old woman. It must be a record.“ (60) Die metaphorische Klammer des Diebstahls, die mit Mrs Maudsley („thieves“) beginnt und mit Mr Earnshaw endet („[r]obbed“), verbindet diesen Handlungsbogen, der von enttäuschten finanziellen Hoffnungen statt familiärer Zuwendung geprägt ist. Offenbar, so suggeriert der Text, hinterlässt die Hoffnung auf finanziellen Wohlstand am Ende nur Verlierer.

Generell diagnostiziert das Stück eine Verschiebung der Selbst- und Weltbeziehungen, um in Rosas Terminologie zu bleiben: Der Mensch wird im Neoliberalismus neu kontextualisiert. Mit „we’re all customers now“ (21) beschreibt Joe, der Vater des Ministeriumsangestellten Colin und Bewohner der Station, die neuen Gesetzmäßigkeiten. Die einzig verfügbare Rolle des Individuums ist die des Konsumenten. Das Leben verkommt zu einem kapitalistischen Wettrennen um den Zugriff auf Ressourcen und Vorteile. Abermals formuliert Joe diesen Gedanken: „Everything’s a competition these days. Just ask my lad [Colin]. Competition brings out the best in people. That’s what Mrs Thatcher taught us apparently.“ (53) Mit der Betonung auf „apparently“, scheinbar, bringt Joe seine Zweifel gegenüber dieser Lebenseinstellung zum Ausdruck, die – geprägt von Margaret Thatchers neoliberaler Politik – antithetisch seiner jetzigen Situation gegenübersteht. Wettbewerb, so wird schnell klar, hält Joe nicht für die geeignete Art, das Beste aus den Menschen ‚herauszuholen‘ („brings out the best“). Im Gegenteil, gerade der kapitalistische Wettbewerb ist verantwortlich für jene Formen des menschlichen Zusammenlebens, die Rosa als „[s]chädliche Formen der Desynchronisierung“ (104) bezeichnet.

Mit dieser Meinung steht Joe alleine und machtlos einem gesellschaftlichen Konsens gegenüber, der vor allem von seinem Sohn repräsentiert wird. Wie weit diese Überzeugungen inzwischen zum Gemeinplatz geworden sind, zeigt die Figur der Schwester Gilchrist. Einer perversen Logik der Effizienz folgend, bringt sie – wie eingangs bereits erwähnt – diejenigen Bewohner um, die ‚zu viel‘ Arbeit machen. Es trifft ausschließlich diejenigen, die nicht mehr ‚einhalten‘ können. Joe hat dies als einziger der Bewohner durchschaut. Entsprechend panisch reagiert er, als ein Praktikant aus Rache für Joes Unhöflichkeiten ihm gegenüber Flüssigkeit in seinen Schoß schüttet und damit Gilchrists Skepsis weckt:

JOE. It was him [Andy]. It was him. It wasn’t me.

PINKNEY. You’ve only wet your ‘jamas. It’s not a tragedy.

JOE. It is for me.

PINKNEY. Why?

JOE. If it goes down on her list, I’m done for. (68)

Zwar attestiert Schwester Pinkney ihrer Kollegin einen „economy drive“ (69), allerdings übersieht sie deren von Kaltblütigkeit geprägte Effizienz. Hier errichtet das Drama eine ‚discrepant awareness‘ zwischen den Charakteren und dem Publikum. Nur letzteres wird Zeuge, als Gilchrist kurz nach Joes Unfall mitten in der Nacht einen verdächtigen Anruf tätigt:

Later. The ward. Night. Gilchrist, alone on stage, makes a phone call.

GILCHRIST. Ramesh. Don’t get over-excited. We may have a bed coming up. Tonight or first thing. I’ll be in touch. (69-70)

Gilchrists Vorhersage trifft ein – verdächtigerweise tun sie das immer – und Betten werden frei. Doch im Gegensatz zum Publikum wird keine der Figuren im Drama skeptisch. „Have there been unexplained deaths?“ (73) fragt sich zwar Colin, aber alles in allem will das so genau gar niemand wissen. No questions asked – mit diesem Motto reagieren die Verantwortlichen auf die willkommenen freien Betten auf der Station.3

Gilchrist fliegt schließlich auf, als ein Kamera-Team zufällig ihre Machenschaften aufdeckt. In einem an das Publikum adressierten Monolog erklärt sich Gilchrist in dem abschließenden Interview zur Vollstreckerin einer modernen Effizienzlogik: „I was a facilitator, self-appointed, I agree, and in any other profession – and nursing is a profession if it is allowed to be – in any other profession, I would be called a progress-chaser.“ (79) Gilchrist sieht sich als fortschrittliche Prozessbegleiterin, die sich streng an die Vorgaben zur Effektivitätssteigerung hält. Dass diese mittlerweile nur mit Methoden erreichbar ist, die unvereinbar mit der Vorstellung einer unveräußerlichen Menschenwürde sind, stört Gilchrist nicht weiter. Sie ist in der Tat nur ein „facilitator“, eine Umsetzerin dessen, was gesellschaftlich und diskursiv verhandelt worden ist. Dabei ignoriert Gilchrist im Einzelnen und der gesellschaftliche Diskurs im Ganzen, dass die Selbst- und Weltbeziehungen im Kapitalismus zunehmend erodieren. Die Pflege von kranken und alternden Menschen, so Allelujah!, ist aber kein Beruf wie jeder andere, sondern gerade hier sind Werte gefragt, die nicht finanziell kompensierbar und übersetzbar sind. Gerade in der Figur der Krankenschwester, die sich selbst als „progress-chaser“ beschreibt, manifestiert sich also eine Form des Fortschrittglaubens und der Effizienz, die mit einer westeuropäischen Werteordnung und dem Glauben an die Würde des Menschen unvereinbar ist.

Die Ursachen dieses Denkens lokalisiert Allelujah! in der Thatcher-Ära, auf die mehrmals explizit referenziert wird. Vor allem der britische Bergarbeiterstreik von 1984/1985, bei dem Margaret Thatcher den Gewerkschaften erheblichen Schaden zugefügt hat, wird immer wieder thematisiert. In der Figur des Joe, der früher im Bergbau gearbeitet hat, sammeln sich diese Überlegungen. Naturgemäß ist er nicht besonders gut auf Thatcher zu sprechen: „I was a miner and with the mining I got a bad chest. Black lung. That was before Mrs Thatcher put paid to the mines.“ (6) Obwohl Joe erhebliche gesundheitliche Probleme durch seinen Beruf erlitten hat, („Staublunge“, 34), gilt sein Abscheu nicht den Arbeitsbedingungen per se. Seine Wortwahl, „Mrs Thatcher put paid to the mines“, deutet vielmehr an, dass sich seine Abneigung auf die bis heute als Premierministerin höchst umstrittene Margaret Thatcher richtet: Sie hat den Bergbau „zunichte gemacht“ (47). Mit Thatcher hat die Privatisierungs-Bewegung im Vereinigten Königreich ein Gesicht gewonnen, das bis heute bei vielen Arbeitern verhasst ist, steht es doch für die rücksichtslose Privatisierung und den Abbau der Gewerkschaften im Zeichen kapitalistischer Profitmaximierung. Allelujah! bezieht sich auf diese Zeit, in der der Grundstein für die jetzigen Missstände gelegt wurde.

Literarische Perspektiven auf den Kapitalismus

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