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4. Gomorra: ‚hautnahes‘ Erleben der Folgen illegaler Wirtschaftskreisläufe für Mensch und Umwelt

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Obwohl die Inhalte von Gomorra sich von denen in Nelle mani giuste unterscheiden, geht Saviano ähnlich vor wie De Cataldo und verbindet Fakten mit fiktionalen Erzählanteilen – mit dem Unterschied, dass Gomorra nicht explizit, zum Beispiel durch den Zusatz ‚Kriminalroman‘, als Fiktion gekennzeichnet ist und keinem bestimmten Genre zugeordnet wird, sondern als hybrider Text, als ‚Dokufiktion‘ bezeichnet werden kann. Gomorra ist in zwei Teile gegliedert, deren Kapitel sich mit verschiedenen Aspekten der Camorra, des organisierten Verbrechens in der süditalienischen Region Kampanien, vor allem in Neapel und in der Provinz Caserta, befassen. Geschildert werden dabei unter anderem die verschiedenen Tätigkeitsfelder, in welche die Camorra verstrickt ist, vom Drogenhandel über die illegale Textilindustrie, in der gefälschte Markenkleidung hergestellt und international vertrieben wird, bis hin zu den Aktivitäten als ‚Ökomafia‘ bei der illegalen Beseitigung von zum Teil giftigem Müll. Gleichzeitig bietet Gomorra einen Einblick in die Strukturen der Camorra-Clans,1 zeigt den Alltag in den von der Camorra beherrschten Gebieten und präsentiert ihre Akteure sowie engagierte Persönlichkeiten, die sich dem organisierten Verbrechen entgegenstellen. Deutlich geht aus Savianos Schilderungen hervor, dass die Camorra das politische und private Leben in den Gebieten, die von ihr kontrolliert werden, in allen Facetten durchdringt, wie es auch in anderen Quellen dargestellt wird:

Camorra control becomes a widely known fact, conditioning both the local population and the political structure. When this position of power is reached, all manner of criminal activities can flourish, privately sanctioned by local political leaders. (Behan 112)

Hervorgehoben wird in diesem Zusammenhang auch, dass das Ziel aller Camorra-Gangs und ihrer Anführer nicht die – territoriale und politische – Kontrolle als Selbstzweck sei, sondern die wirtschaftliche Dominanz: „The Camorra’s governing drive remains economic and not political or social: physical control over a given territory and domination of local politicians, i.e. the exercise of power, are means towards the end of capital accumulation and enrichment.“ (Ebd.)

Savianos Buch ist entsprechend nicht das einzige, das sich mit dem organisierten Verbrechen Italiens und seinen lokalen sowie globalen Verstrickungen und Geschäften befasst, aber kein anderes erreichte den Bekanntheitsgrad von Gomorra. So wird beispielsweise in Mafia export (2009) des Journalisten und Politikers Francesco Forgione detailliert und mit Verweis auf konkrete Namen und Orte dargestellt, in welche legalen Geschäfte – unter anderem in der Gastronomie und im Baugewerbe – kriminelle italienische Organisationen weltweit verwickelt sind. Bei Mafia export allerdings handelt es sich explizit um ein Sachbuch, während sich Gomorra als hybrider Text präsentiert:

Der Anspruch, die Wahrheit zu erzählen und die neapolitanische Verbrechenswelt im Bereich der ecomafia aufzudecken, versperrt dem Werk den Weg in die reine Fiktion. Aber der Text präsentiert sich auch nicht als Sachbuch, er ist kein saggio [Essay], das dafür nicht ausreichend Konstanz und Distanz aufweist. (Conrad von Heydendorff 288)2

Gerade diese Mischung aus Fakten und Fiktion, die Kombination von Sachtextelementen – allerdings ohne Angaben von Quellen – und persönlichen Erfahrungen lässt sich als eine mögliche Erklärung für das ‚literarische Phänomen‘ Gomorra anführen:

Gomorra und den Erfolg des Werkes ohne die tatsächliche Person, den realen Autor, die Figur des Ich-Erzählers Roberto Saviano zu denken, ist unmöglich. Der Text bezieht seine Wahrhaftigkeit in großen Teilen aus dem Umstand, dass der Ich-Erzähler nicht schlicht ein Detektiv oder Journalist ist, sondern eine Person, die (zumindest partiell) ‚selbst erlebte‘ Ereignisse erzählt. (Ebd. 300)3

Dass der Autor, der gleichzeitig zum Ich-Erzähler in Gomorra wird, sich als unmittelbar Betroffener und in die Geschehnisse involvierter Zeuge inszeniert, wird insbesondere am Beispiel des letzten Kapitels von Gomorra deutlich, das den Titel „Terra dei fuochi“, „Feuerland“, trägt. In diesem letzten Kapitel geht es um die illegale Beseitigung, unter anderem durch Verbrennen, von Giftmüll in einem Gebiet zwischen den Provinzen Neapel und Caserta.4 Christiane Conrad von Heydendorff sieht in diesem abschließenden Kapitel gleichzeitig das Ziel der persönlichen „Entwicklungsreise“ des Ich-Erzählers, die eng mit der Beschreibung und Erfassung der im Text geschilderten Wirtschaftskriminalität verknüpft ist:

Es scheint […] durchaus ein Entwicklungsprozess des erzählenden Protagonisten angelegt zu sein, der jedoch an die zyklische Transformation der Waren gekoppelt ist: an die Wirtschaftskriminalität in einem kapitalistischen System. Dieser zyklische Transformationsprozess, der im Romanganzen Geld zu Ware, Ware zu Müll und Müll wiederum zu Geld werden lässt, findet sein erzählerisches Ende im Kapitel „Terra dei fuochi“ [Feuerland] (299).

Bei dem hier beschriebenen illegalen Wirtschaftskreislauf handelt sich um einen globalen Markt, der weit über Italien hinausreicht und an dem neben den kriminellen Akteuren auch politische und ‚reguläre‘ wirtschaftliche Kräfte beteiligt sind.5 Dieser globale Markt ist – wie bereits im zweiten Kapitel des vorliegenden Beitrags angedeutet – „durch „[d]ie ‚Logik‘ des Kapitals, seine Tendenz zur totalen Unterwerfung allen Lebens“ (Eickelpasch et al. 9) gekennzeichnet. Am unteren Ende der Ausbeutungskette stehen die Menschen in der durch Giftmüll verseuchten Region Süditaliens, in die sich der Ich-Erzähler im letzten Kapitel von Gomorra begibt. Dieses Kapitel führt beispielhaft sowohl Hintergrundinformationen als auch unmittelbares eigenes körperliches Erleben des Ich-Erzählers zusammen. Ein Beispiel für allgemeine Informationen und Überlegungen zum Wirtschaftssystem, das die illegale Müllverbrennung begünstigt, findet sich am Anfang des Kapitels:

Mülldeponien können den Wirtschaftskreislauf am besten veranschaulichen. Auf ihnen sammelt sich an, was der Konsum hinterlassen hat, und das ist mehr als nur der Rest dessen, was einmal produziert wurde. Der Süden ist Endstation sämtlicher giftiger Abfälle, sämtlicher wertlosen Überbleibsel, sämtlicher Rückstände aus der Produktion. Der gesamte illegal entsorgte Müll ergibt nach einer Schätzung der Umweltschutzorganisation Legambiente vierzehn Millionen Tonnen, das entspricht einem 14 600 Meter hohen Berg auf einer drei Hektar großen Grundfläche. […] In meiner Vorstellung gleicht diese gewaltige Erhebung den Endlossträngen einer DNA, auf der alles gespeichert ist – Handelsoperationen, die Subtraktionen und Additionen der Finanzexperten, die Profitraten. (Gomorrha 341)6

Anhand dieses Auszugs lässt sich ein Bezug zu einem der eingangs genannten Aspekte der Kapitalismuskritik herstellen: Die Gefahren für die Umwelt durch das Wirtschaftswachstum werden hier explizit benannt; am Beispiel der durch Zahlen benannten Mengen an illegal entsorgtem Müll, darunter Giftmüll, aus der industriellen Produktion wird veranschaulicht, welche Folgen ein auf Profitmaximierung ausgerichtetes Wirtschaftssystem für die Umwelt haben kann. Zwei Charakteristika von Savianos Erzählweise werden ebenfalls verdeutlicht: Das Aufzählen von Daten erfolgt ohne Quellenangabe; gleichzeitig meldet sich das erzählende Ich mit persönlichen Assoziationen zu Wort, als jemand, der stellvertretend für seine Leserinnen und Leser versucht, den Wirtschaftskreislauf zu verstehen, um Kritik daran üben zu können.

Eingebettete anekdotische Erzählungen, deren Wahrheitsgehalt nicht überprüft werden kann, tragen ebenso wie die eindringliche Assoziation zwischen den anfallenden Müllmengen und der Form eines gigantischen Berges dazu bei, den abstrakten Fakten ein ‚Gesicht‘ zu geben – im folgenden Beispiel das eines Landwirtes, der beim Pflügen seines Feldes auf giftigen Restmüll stößt:

Eines Tages pflügte ein Bauer seinen Acker, der genau an der Grenze zwischen den Provinzen Neapel und Caserta lag; er hatte das Stück Land gerade erst gekauft. Der Motor seines Traktors ging immer wieder aus, als wäre das Erdreich an diesem Tag ganz besonders fest. Und auf einmal beförderten die Pflugscharen Papier zutage. Geld. Tausende und Abertausende, Hunderttausende von Geldscheinen. Der Bauer sprang von seinem Traktor und fing an, in fliegender Hast die Fetzen aufzusammeln, als wäre es die versteckte Beute aus einem großen Banküberfall. Aber es waren nur Papiergeldschnipsel, die Farbe ausgebleicht. Geschredderte Banknoten der italienischen Staatsbank. Tonnenweise zu Ballen gepreßte [sic!] Lirescheine, die man aus dem Verkehr gezogen hatte. Die alte italienische Währung, die man hier verscharrt hatte, vergiftete jetzt einen Blumenkohlacker mit Blei. (Gom 344-5)

Auffällig an diesem Auszug sind Savianos narrative und rhetorische Strategien: Er schmückt die Episode um den Bauern aus Caserta durch plakative Beschreibungen seines Verhaltens aus, zum Beispiel durch die Wendung „in fliegender Hast“,7 so dass der Eindruck entsteht, als Augenzeuge ‚live‘ dabei zu sein. Die Klimax „Tausende und Abertausende, Hunderttausende von Geldscheinen“8 unterstreicht hyperbolisch die Menge an Geldscheinen, die im Acker vergraben sind. Dass es sich gerade um Banknoten handelt, kann ebenfalls als geschickter rhetorischer Einfall gesehen werden, da Geld und Gewinn Dreh- und Angelpunkt des ganzen illegalen Wirtschaftskreislaufs bilden.

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