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1. Alan Bennetts Kapitalismuskritik: Menschenwürde versus Effizienz

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Hinter dem in Deutschland und auf dem Rest des europäischen Kontinents relativ unbekannten Namen Alan Bennett verbirgt sich einer der produktivsten und beliebtesten Dramatiker, den England im ausklingenden 20. Jahrhundert hervorgebracht hat (vgl. McKechnie 1). Nach fünf Jahrzehnten im Showbusiness ist Bennett das, was in Großbritannien gerne als „household name“ oder – in den Worten McKechnies – als „cultural icon“ bezeichnet wird (5); Joseph O’Mealy nennt ihn sogar „England’s best-loved playwright“ (xiii). Geboren 1934 im nordenglischen Leeds hat sich der studierte Historiker bereits zu Beginn der 1960er Jahre mit seinen Auftritten in der satirischen Revue Beyond the Fringe einen Namen gemacht. Später folgten zahlreiche Theaterstücke, darunter sein bislang wohl bekanntestes, The Madness of George III (1990), ein satirischer Kommentar auf Prinz Charles, dessen Status als ewiger Thronfolger bereits in den 1990er Jahren ein Running Gag war und es – der Thronfolger ist auch nicht mehr der Jüngste – nach wie vor ist (vgl. Huber/Schaff). Seinen Platz in der britischen TV-Geschichte sicherte sich Bennett mit Talking Heads (1988, 1998), einer Serie dramatischer Monologe, ausgestrahlt von der BBC, in der die Charaktere (dargestellt von Größen des englischen Theaters wie Maggie Smith oder Julie Walters und sogar Alan Bennett selbst) Einblicke in ihr turbulentes Seelenleben gewähren und dabei, oftmals unfreiwillig komisch, die Zuschauer_innen zu Komplizen ihrer Affären, Einsamkeit und Skurrilität machen.

Bennetts Stücke haben sich schon immer für die Ausgestoßenen der Gesellschaft interessiert und sich dabei vor allem dadurch ausgezeichnet, authentische Dialoge wiederzugeben, die sowohl die Gewohnheiten der unteren als auch die der oberen Schichten einfangen (vgl. McKechnie 190). Themen, die sich wie ein roter Faden durch Bennetts Schaffen ziehen, sind das britische Klassensystem, Anstand und Schicklichkeit, sowie die Unterschiede zwischen Nord und Süd (vgl. Dowd). Dabei bewahrt Bennett immer eine ironisch-komische Distanz und ist um Ausgleich zwischen den verschiedenen Positionen bemüht. So gibt er zu, „that is one of the reasons why I write plays: one can speak with a divided voice“ (Allelujah! x).1

Als Schauplatz für sein neuestes Stück, Allelujah! (2018), wählt Bennett einen geriatric ward, die geriatrische Station des Bethlehem-Krankenhauses in Yorkshire mit seinen alternden Bewohner_innen. Die Themen des Stücks sind die (finanzielle) Zukunft des britischen National Health Service (NHS), die Privatisierung des Gesundheitssektors und das Effizienz-Diktat der derzeitigen neoliberalen Regierung, kombiniert mit der von Margaret Thatcher prominent vertretenen Überzeugung, dass es ‚die Gesellschaft‘ nicht gibt, sondern nur einzelne Männer und Frauen, die für sich selbst sorgen müssen. Es geht um fundamentale Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die sich auf das Bethlehem projizieren lassen: Ist die Gesellschaft für ihre Mitglieder verantwortlich und wenn ja, wie geht sie mit denen um, die im kapitalistischen Sinne, aus Alters- oder Gesundheitsgründen, nicht mehr ‚nützlich‘ sind?

Diese Frage scheint für die jüngeren Charaktere des Stücks bereits beantwortet: Das Bethlehem steht kurz vor der Schließung, denn in Zeiten der Profitmaximierung und Spezialisierung (vgl. Taylor), so denkt jedenfalls der Beamte Colin, rechnen sich solche Institutionen nicht mehr, die die Menschen vor Ort von der Wiege bis zur Bahre begleiten: „The notion of a hospital caring for a community from birth to death is a sentimantal one. It’s the stuff from television. We do not need these birth-to-death emporiums.“ (36) Das Allheilmittel aller medizinischen (und vor allem finanziellen) Probleme sieht Colin in „[c]entres of excellence“ und „[s]pecialist units“ (ebd.). Anders, so Colin, sei das Krankenhaus nicht rentabel zu führen. In diesem ideologischen Grabenkampf steht ihm gegenüber, der zupackende, leicht narzisstische Vorsitzende der Krankenhausstiftung, Salter (vgl. Trueman); er weigert sich, das „Beth“ aufzugeben (vgl. Billington): „Beth short for Bethlehem, so called when it was founded in the eighteenth century because, like the inn, nobody was turned away.“ (11) Mit dem kapitalistischen Profitdenken auf der einen, und einer (zumindest augenscheinlich) von christlicher Nächstenliebe (die Assoziationen mit Bethlehem und der biblischen Weihnachtsgeschichte liegen auf der Hand) geprägten Handlungsmaxime auf der anderen Seite, scheinen die Fronten geklärt.

Vordergründig dominieren die Themen Alter und Tod das Geschehen im Stück – kein Wunder, immerhin besteht der 25-köpfige Cast aus gleich einem Dutzend Schauspieler_innen im Rentenalter (vgl. Billington),2 die die Bewohner_innen und Patient_innen der geriatrischen Station darstellen. Allerdings sind – wie bereits angedeutet – die Themen Effizienz, Rationalisierung, Flexibilität, Profit und Beschleunigung ebenfalls präsent. Diese werden vor allem von den Charakteren des Colin Coleman und der Schwester Gilchrist verkörpert, die sich sogleich im augenscheinlichen Gegensatz zu den alternden, langsamen, mitunter geistig nicht mehr ganz fitten Bewohnern positionieren. Wie groß der Gegensatz ist, wird dem Publikum allerdings erst gegen Ende des Stückes klar: Ihrer Taten überführt, gibt Schwester Gilchrist zu, für die Todesfälle verantwortlich zu sein, die den Krankenhausalltag und die Rezeption des Stückes gleichsam immer wieder unterbrechen. Indem sie immer diejenigen Patienten „discharged“ (46), also ‚entlässt‘, beziehungsweise umbringt, die inkontinent werden, sorgt Gilchrist auf unkonventionelle Art für freie Betten auf der Station und somit dafür, dass immer wieder neue Patienten aufgenommen werden können: Mit der simplen Aussage, „we have better things to do than empty bedpants“ (14), rechtfertigt Gilchrist ihr Handeln.

Indem Bennett die Beziehung zwischen kapitalistischer Effizienz und Menschenwürde (vor allem im Alter) zum zentralen Punkt seines Stückes erklärt, stellt er sich in diejenige Traditionslinie der Kapitalismuskritik, die Rahel Jaeggi als „ethische Kritik am Kapitalismus“ zusammenfasst. Diese postuliert:

Das durch den Kapitalismus geprägte Leben ist ein schlechtes oder ein entfremdetes Leben. Es ist verarmt, sinnlos oder leer und destruiert wesentliche Bestandteile dessen, was zu einem erfüllten, glücklichen, vor allem aber auch ‚wahrhaft freien‘ menschlichen Leben gehört. Kurz: Die ethische Kritik thematisiert den Kapitalismus als Welt- und Selbstverhältnis. (341)

In dieser Traditionslinie wird der Kapitalismus unter Verweis auf die verminderte Lebensqualität kritisiert. Das menschliche Leben verkommt zu einer sinnlosen, leeren Existenz, bar all dessen, was Jaeggi unter den Aspekten der Erfüllung (im Beruf oder im Privaten), Freiheit, Autonomie und schlussendlich Glück zusammenfasst. Dass Allelujah! auf diese Art der Kritik abzielt, ist offensichtlich. Diejenigen Charaktere, die sich dem Effizienz-Direktiv des freien Marktes verschrieben haben, geben sich die größte Mühe, das Leben der Bewohner_innen auf jede erdenkliche Weise weniger erfüllt, frei und glücklich zu machen: Colin, indem er das Bethlehem gleich ganz schließen will; Gilchrist, weil sie bereitwillig Menschenleben den Arbeitsabläufen unterordnet. Um diese Art der Kapitalismuskritik zu formulieren, bedient sich Allelujah! also einer Gegenüberstellung zweier Lebensentwürfe: Das Stück zeigt, dass ein kapitalistischer Effizienzbegriff, der vor allem durch eine beschleunigte Arbeitswelt und dynamische Flexibilität geprägt ist, einem Leben und Altern in Würde diametral entgegensteht. Allelujah! denkt die Implikationen dieses neoliberalen Ansatzes konsequent zu Ende und hält der Gesellschaft, die diese Ideen zum neuen Idealzustand erhoben hat, den Spiegel vor.

Kapitalismus wird in diesem Stück vor allem als eine Steigerung der Effektivität und als konstante Beschleunigung begriffen. Damit drückt Allelujah! ähnliche Gedanken aus, wie die, die der Soziologe Hartmut Rosa unter anderem in Beschleunigung und Entfremdung: Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit (2013) vertritt. Darin diagnostiziert Rosa für die Moderne eine Veränderung der Zeitstruktur, welche nunmehr der „Herrschaft und Logik eines Beschleunigungsprozesses untersteht“ (9).3 Laut Rosa entwickelt sich dieser Beschleunigungsprozess zum „ständige[n] Begleiter des modernen Menschen“ (16). Die Gründe für die tatsächliche und gefühlte Zeitknappheit, beziehungsweise das Gefühl der ‚rasenden Zeit‘, lassen sich nach Rosas Theorie auf die kapitalistische Produktionsweise zurückführen:

Wenn wir nach den Mechanismen suchen, die in der modernen Gesellschaft die Prozesse der Beschleunigung und des Wachstums antreiben und miteinander verbinden, kann wenig Zweifel daran bestehen, dass dabei die grundlegenden Prinzipien und Profitgesetze der kapitalistischen Ökonomie eine wesentliche Rolle spielen. Die simple Identifikation von Zeit und Geld, die wir aus Benjamin Franklins berühmtem Ausspruch kennen, ist in verschiedenen Hinsichten zutreffend. (35)

Rosa definiert den Kapitalismus also zwingend über sein Zeitdiktat und weist darauf hin – wie bereits viele vor ihm, unter anderem Benjamin Franklin –, dass Zeit und Geld in einer kausalen Beziehungskette zu stehen scheinen: je schneller, desto effizienter, desto profitabler.

Rosa unterscheidet zwischen einer „technische[n] Beschleunigung“, der „Beschleunigung des sozialen Wandels“ und der „Beschleunigung des Lebenstempos“ (vgl. 20-44). Grundsätzlich gilt jedoch festzuhalten, dass alle drei Formen sich gegenseitig bedingen und gemeinsam, „meist hinter dem Rücken der Akteure, das menschliche Weltverhältnis als solches, also unser Verhältnis zu unseren Mitmenschen und zur Gesellschaft“, verändern (ebd. 60). Dies fasst Rosa folgendermaßen zusammen:

Die soziale Beschleunigung produziert neue Zeit- und Raumerfahrungen, neue soziale Interaktionsmuster und neue Formen der Subjektivität, und in der Folge transformiert sie die Art und Weise, in der Menschen in die Welt gestellt oder geworfen sind – und die Art und Weise, in der sie sich in dieser Welt bewegen und orientieren. (66, Hervorhebung im Orig.)

Die Beschleunigung verändert also den Zugang zu sich selbst, zu anderen, und letztendlich zur Welt (vgl. ebd. 60).

Der Kapitalismus ist aufgrund seiner Profitorientierung und der damit einhergehenden Jagd nach Wettbewerbsvorteilen seit jeher durch ein Denken in kurz- und mittelfristigen, und eben nicht langfristigen, Intervallen geprägt – noch mehr so, seit sich die größten Transaktionen auf den internationalen Aktienmärkten vollziehen. Da sich menschliches beziehungsweise organisches Leben aber nicht im selben Maße beschleunigen lässt, spricht Rosa von „[s]chädliche[n] Formen der Desynchronisierung“ (104),4 um das Verhältnis der beiden Zeitstrukturen in Verbindung zu setzen: Der Mensch hat zusehends das Gefühl, ‚nicht mehr hinterher zu kommen‘. Die Folge ist ein entfremdetes, unglückliches und – wie in Bennetts Drama ausführlich diskutiert – menschenunwürdiges Leben. Im Folgenden werde ich daher aufzeigen, dass Bennetts Theaterstück Alleluljah! das Effizienzdiktat des modernen Kapitalismus unter Verweis auf die negativen Folgen für Individuum und Gesellschaft kritisiert. Im Kontext des Krankenhauses und geriatric ward wird besonders deutlich, welch großen zwischenmenschlichen Schaden die neoliberale Beschleunigung und der profitorientierte Effizienzgedanke anrichten können. Dabei arbeitet Alleluljah! nicht nur mit einer simplen Gegenüberstellung von Alt und Jung, sondern zeigt auf, dass im Kapitalismus alle zu Verlierern werden, sobald sie sprichwörtlich ‚nicht mehr mithalten können‘. Besonderes Augenmerk liegt zum Abschluss der Analyse noch auf der Raumhaftigkeit des Theaters, das sich schon als Medium der Zeitfokussierung des Kapitalismus entgegenstellt.

Literarische Perspektiven auf den Kapitalismus

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