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5. Literarische (fiktionale) Darstellungen als Ergänzung und Weiterführung theoretischer Überlegungen
ОглавлениеUnter Rückbezug auf die eingangs zitierte Frage – „Wie lassen sich gegenwärtige Theorien der Kapitalismuskritik auf literarische Texte anwenden und welche Leerstellen der Theorie füllt wiederum die Literatur?“ – lässt sich zusammenfassend feststellen, dass die in theoretischen Ausführungen dargelegte Kritik an kapitalistischen Strukturen und ihrem Einfluss insbesondere auf Moralvorstellungen und auf das ökologische System in Nelle mani giuste und Gomorra in konkrete, greifbare Handlungen und Figuren ‚übersetzt‘ wird: Beispiele dafür liefern die zugespitzte Darstellung des Journalisten Carú in Nelle mani giuste oder die anekdotische Episode um den ‚Geldacker‘ in Gomorra.
Sowohl Nelle mani giuste als auch Gomorra zeigen die Freiheiten und Möglichkeiten gerade der fiktionalen Literatur auf, Kritik an entsprechenden Strukturen eindringlich darzustellen und – im Falle von De Cataldos Roman – die bekannten Fakten neu zu kombinieren und Vermutungen anzustellen, die in einem journalistischen Text, in dem alle Aussagen belegbar sein müssen, nicht möglich wären. Der Kriminalroman eignet sich – dies gilt, wie bereits zu Beginn kurz erwähnt, insbesondere für Italien – als Textsorte, die zur kritischen Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Realität genutzt werden kann. Durch beispielsweise politisches Engagement oder das Ausüben von Berufen im Bereich der Justiz, mit denen Integrität assoziiert wird, gewinnen auch die Autorinnen und Autoren von ‚Gialli‘ an Glaubwürdigkeit und ethos im Sinne von Korthals Altes, was sich wiederum auf die Rezeption ihrer Werke auswirken kann. Gomorra nimmt in diesem Panorama eine Sonderstellung ein: Es handelt sich hierbei nicht um einen Kriminalroman, sondern um eine Darstellung krimineller Aktivitäten mit hohem Realitätsbezug, die als Dokumentation und investigative journalistische Recherche angelegt ist. Roberto Saviano nennt entsprechend konkrete Namen und Orte, allerdings – und das ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert – ohne Quellenangaben. Für die Darstellung der geschilderten Fälle und Schicksale bedient der Autor sich darüber hinaus narrativer Strategien, die der fiktionalen Literatur entlehnt sind. Warum erscheinen die Schilderungen dennoch glaubwürdig? Es mag auf den ersten Blick paradox scheinen, aber es sind gerade die erwähnten Fiktionalitätsstrategien – vor allem die Schilderungen aus der Sicht des ‚erlebenden Ich‘ Roberto Saviano –, die den Eindruck einer unmittelbaren Nähe zum Geschehen vermitteln und ein ‚Mitfühlen‘ ermöglichen (vgl. dazu Conrad von Heydendorff 412).
Festzuhalten ist abschließend, dass es sich in beiden Fällen nicht um eine dezidierte Kritik am Kapitalismus per se handelt: Eine kapitalistische Ordnung der Gesellschaft wird von De Cataldo und Saviano nicht grundsätzlich – zugunsten anderer Staats- und Wirtschaftsformen – in Frage gestellt. Offengelegt werden jedoch Entwicklungen innerhalb dieses Systems, die moralische Fragen aufwerfen, sowohl in Bezug auf individuelles (Fehl-)Verhalten als auch auf die Verwischung der Grenzen zwischen legalem und illegalem Unternehmertum sowie hinsichtlich des ausbeuterischen Umgangs mit natürlichen Ressourcen und mit dem Stellenwert des (menschlichen) Lebens, das in beiden hier betrachteten Texten zu einer ‚Ware‘, zu einer vernachlässigbaren Größe im Kampf um Geld und Einfluss oder zu einer (politischen) ‚Verhandlungsmasse‘ in Form von Wählerstimmen beziehungsweise Konsumentinnen und Konsumenten deklassiert wird.1