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Zur Thematik und Aktualität dieses Bandes

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Annika Gonnermann, Lisa Schwander, Sina Schuhmaier

Die Abbildung auf dem Cover dieses Buches zeigt eine stillgelegte Produktionshalle der Ford-Fabrik in Highland Park, Detroit. Highland Park war nicht die erste Anlage der Ford Motor Company – ihr voraus gingen die Mack Avenue und Piquette Avenue Werke –, aber die erste, die Autos in Fließbandfertigung herstellte. Das Cover unseres Bandes bezieht sich also auf einen fast schon mythologischen Ort in der Geschichte des Kapitalismus, wo, wie es Jeffrey Eugenides’ Roman Middlesex (2002) ausdrückt, der Mensch zur Maschine wurde,1 die Autoindustrie Detroit zu einer der führenden Metropolen des Landes machte und Henry Ford im Kosmos seiner Fabriken den ‚melting pot‘ als Grundmodell der US-amerikanischen Gesellschaft erprobte.2 Ein Mythos um die Detroiter Ford-Fabriken besteht nach wie vor; er verkündet mittlerweile allerdings auch das Ende der Phase des Fordismus und den langen Niedergang der Stadt. So zeigt unser Cover einen Ort, den der Kapitalismus ausgesondert hat und der nun, bar seiner Funktion, gewissermaßen als Nicht-Ort in Erscheinung tritt.3 Dass auch dies nur eine Momentaufnahme sein könnte, belegen zwischenzeitliche – wenn zuletzt auch wieder eingestellte (vgl. Staes) – Bestrebungen, das Highland Park Werk in einen Museumskomplex zu verwandeln (vgl. Lukowski).

Formal betrachtet nimmt die Abbildung einen bestimmten, künstlerisch überformten Blickwinkel gegenüber ihrem Gegenstand ein (so etwa in der Tiefenwirkung, Symmetrie, Belichtung, oder der Spiegelung des Dachgerüsts und des Himmels in Wasserpfützen auf dem Boden). Damit wird bereits angedeutet, was die in diesem Band diskutierten Werke auszeichnet: Gleich der Abbildung entwerfen sie durch die ihnen eigenen ästhetischen Mittel Perspektiven auf unterschiedliche Phänomene des Kapitalismus.4 Dabei eint sie ein kritischer Fokus, auch dort, wo, systemtheoretisch gesprochen, die Literatur zu einer Beobachtung höherer Ordnung übergeht und ihrerseits (theoretische) Perspektiven auf den Kapitalismus reflektiert. Die hier versammelten Aufsätze, welche die spezifischen Möglichkeiten der Literatur herausarbeiten und diskutieren, gehen aus einer Ringvorlesung hervor, die an der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim im Frühjahrssommersemester 2019 abgehalten wurde. Wir möchten an dieser Stelle noch einmal allen Beitragenden unseren Dank aussprechen und freuen uns, dass wir den Großteil der Vorlesungsbeiträge in diesem Band abbilden können. Großer Dank gilt ebenfalls den Autor_innen, die zusätzlich zu diesem Band beitrugen. Ein besonderes Anliegen war es uns, den Austausch zwischen der anglistischen, amerikanistischen, germanistischen und romanistischen Literaturwissenschaft, den die Vorlesungsreihe ermöglichte, mit diesem Band weiterhin zu befördern.

Die Idee zu einer Ringvorlesung und dem anschließenden Sammelband über literarische Perspektiven auf den Kapitalismus entstand aus einem Zusammenspiel mehrerer Faktoren: der wahrnehmbaren Fülle aktueller kapitalismuskritischer Theorien,5 einem gesellschaftlichen Diskurs, in welchem sich kapitalismuskritische Stimmen mehren, und der Feststellung, dass sich zeitgenössische literarische Werke an diesem Diskurs beteiligen. Jedoch darf die Literatur nicht als ein weiterer Diskurs unter vielen gelten; vielmehr kommt ihr ein besonderer Stellenwert in der Verhandlung von gesellschaftlicher Realität zu, der in ihrer ästhetischen Geformtheit begründet liegt. So hält auch Sieglinde Klettenhammer im Vorwort zu dem Sammelband Literatur und Ökonomie (2010) fest, „dass Literatur als ästhetisch komplex organisiertes symbolisches Zeichensystem immer wieder eine kritische Energie entfaltet, die Defizite und Widersprüche der kapitalistischen Ökonomie aufzeigt und – von einem moralisch-ethischen Bewusstsein aus – Alternativen zum Bestehenden durchscheinen lässt“ (9). Dabei ist wesentlich, dass die Literatur ein entpragmatisiertes Zeichensystem darstellt, über das sich Räume der Reflexion erschließen lassen, die den Status quo in Frage stellen. Was Çınla Akdere, Christine Baron und Bruna Ingrao als „thought-provoking and challenging role of literature“ (8) bezeichnen, tritt auch in allen Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes zutage, die der „spezifische[n] Differenz der Literatur, ihre[r] durch die Fiktionalisierung von Erfahrung und die Ästhetisierung sprachlicher Weltbezüge bedingte[n] Eigendynamik als komplexes Reflexions-, Repräsentations- und Kommunikationsmedium kultureller Prozesse“ (Zapf 5) Rechnung tragen. Die Grundlage der folgenden Beiträge bildet ein an die Überlegungen Hubert Zapfs angelehntes Konzept von Literatur als ‚Metadiskurs‘:6 Literatur ist in besonderer Weise dazu geeignet, gesellschaftliche Diskurse abzubilden, zu einen, zu kontrastieren und zu hinterfragen. Ohne direkte Bezugnahme deckt Klettenhammers Charakterisierung von Literatur sowohl ab, was Zapf als ‚kulturkritischen Metadiskurs‘ definiert, als auch dessen Idee des ‚imaginativen Gegendiskurses‘.7 Als solch ein Gegendiskurs vermag Literatur alternative Szenarien zu entwerfen; ob und inwieweit sie in dieser Funktion an der Totalität des Kapitalismus scheitert, beleuchten nicht zuletzt einige Beiträge dieses Bandes.

Literarische Perspektiven auf den Kapitalismus

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