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Ethisch-moralische Dilemmata im Philosophie- und Ethikunterricht
ОглавлениеNegative bzw. moralische und insbesondere tragische Dilemmata stellen „Handelnde vor die Herausforderung […], in Situationen eine Entscheidung zu treffen, in denen sie es nicht vermeiden können, einer Pflicht zuwiderzuhandeln.“10 Handelnde, die sich in einer ausweglosen Situation befinden, sollten nicht erwarten, dass ethische Theorien in der Frage, was sie tun sollen, „entscheidungsrelevante Hilfe bieten. Denn ein tragisches Dilemma ist gerade dadurch definiert, dass man die eine ebenso wie die andere Handlung auszuführen verpflichtet ist“.11
Aber es ist genau diese Aporie, die sich in besonderem Maße für den Einsatz im Philosophie- und Ethikunterricht eignet. Die Gründe dafür sind mannigfaltig:
1. In Anlehnung an den amerikanischen Psychologen Lawrence Kohlberg sollen die am Philosophie- bzw. Ethikunterricht teilnehmenden Schülerinnen und Schüler ihre jeweilige moralische Kompetenz erweitern. Dazu bieten sich Dilemmadiskussionen an, denn sie fordern zu einer begründeten Stellungnahme geradezu heraus.
2. Je mehr ethische Positionen Schülerinnen und Schüler kennen, desto kenntnisreicher können sie Dilemmata dahingehend analysieren, welche ethische Theorie dazu beiträgt bzw. welche ethischen Theorien dazu beitragen können, zu einer eventuell vertretbaren Lösung des aufgeworfenen Problems zu gelangen.
3. Auch der hohe motivationale Charakter, der von Dilemmageschichten ausgeht, darf keineswegs außer Acht gelassen werden. Gerade weil unterschiedliche Positionen eingenommen werden können, mag dies eine höhere Beteiligung an den häufig sehr konträr geführten Diskussionen zur Folge haben. Auf dieses Weise kann außerdem die Gesprächskultur innerhalb einer Klasse oder eines Kurses weiter gefördert werden.
4. Das oberste Ziel aber, das im Philosophie- oder Ethikunterricht mit der Durchführung von Dilemmadiskussionen angestrebt wird, besteht – folgt man Lawrence Kohlberg – in der (Weiter-) Entwicklung der moralischen Urteilskraft.12 Für die Schulung moralischer Kompetenz ist es seiner Theorie zufolge förderlich, Schülerinnen und Schüler in echte Moralkonflikte zu versetzen, um sie dann mit Argumenten zu konfrontieren, die eine Stufe höher liegen als die von ihnen derzeit vertretenen. Durch diese Vorgehensweise soll erreicht werden, dass die jungen Menschen zur nächsthöheren Moralstufe geführt werden.
Kohlberg, der seine (ausschließlich männlichen) Probanden mit Dilemmata buchstäblich überfrachtete, musste allerdings einsehen, dass sich eine moralische Weiterentwicklung nicht allein durch den permanenten Einsatz von Dilemmata erreichen ließ. Dennoch ist es ihm – sozusagen als Vater des methodischen Einsatzes von Dilemmata – zu verdanken, dass im modernen Philosophie- und Ethikunterricht der Auseinandersetzung mit moralischen bzw. negativen Dilemmageschichten eine tragende Rolle zukommt.
Der didaktische Hauptgrund für die mittlerweile gängige Beschäftigung mit Dilemmata im Unterricht liegt klar auf der Hand: Die Lernenden werden auf diese Weise förmlich dazu gezwungen, rational über emotionale Zwangslagen nachzudenken, ihre Ansichten ständig neu zu hinterfragen und die von ihnen vertretenen Standpunkte immer wieder zu überprüfen.13 Wer der „didaktischen Falle“14 von Dilemmageschichten aufsitzt, sich auf sie einlässt und sich in die Lage der oder des Handelnden begibt, wird nicht umhinkönnen, sich philosophisch zu betätigen. Das Sich-Einlassen auf eine moralische Dilemmasituation bedeutet automatisch, sich mit einem nicht zu lösenden moralphilosophischen Problem auseinanderzusetzen. Für die Fächer Philosophie und Ethik lässt sich aus dem Gesagten ableiten, dass es nahezu unmöglich ist, mit dem Einsatz von Dilemmata einen nicht-problemorientierten Unterricht durchzuführen.
Aus den angeführten Aspekten erwächst geradezu die Notwendigkeit des unterrichtlichen Einsatzes von Dilemmata. Dabei ist es sinnvoll, dass ein zur Verwendung kommendes Dilemma möglichst der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler entstammt. Der Vorteil einer solchen Dilemmageschichte liegt darin, dass sie, ohne Umwege einzuschlagen, direkt zum Problem der Schülerinnen und Schüler avanciert. Benutzt man allerdings ein Dilemma, das – wie Sophies Wahl – fernab der Lebenswelt der Lernenden liegt, so regt es natürlich auch zum Denken an. Damit es sich aber für die Moralentwicklung als gewinnbringend erweist, ist es von entscheidender Bedeutung, dass es von den Schülerinnen und Schülern nicht als weit von ihnen entferntes und daher für sie irrelevantes fiktionales Beispiel wahrgenommen, sondern in seiner ganzen Dramatik nicht nur mitgedacht, sondern auch mitgefühlt wird.