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Richard Powers (*1957)

Kraniche landen in der Dämmerung. Sie schweben in lockeren Ketten vom Himmel. Zu Dutzenden streben sie aus allen Richtungen herbei und sinken mit der Dunkelheit herab. Hunderte von Grus canadensis rasten an dem noch halb gefrorenen Fluss. Sie sammeln sich auf den Inseln im seichten Wasser, wo sie grasen und unter Flügelschlagen ihre Trompetenrufe ertönen lassen: die Vorhut einer gewaltigen Wanderung. Von Minute zu Minute werden es mehr, und die Luft färbt sich rot von ihren Schreien.

Ein Hals reckt sich lang, die Beine baumeln herab. Flügel wölben sich nach vorn, ihre Spannweite so groß wie ein Mensch. Die Schwungfedern wie Finger gespreizt, legt er sich schräg in den Wind. Der blutrote Kopf macht eine Verbeugung, und die Flügel berühren sich – ein lang gewandeter Priester spendet den Segen. Die Schwanzfedern richten sich auf, und der Leib sackt nach unten, dem plötzlich näher kommenden Boden entgegen. Beine strampeln; mit den nach hinten abgewinkelten Knien sehen sie aus wie das gebrochene Fahrgestell eines Flugzeugs. Ein weiterer Vogel im Sinkflug findet strauchelnd einen Platz auf der dicht bevölkerten Landebahn an diesem wenige Meilen langen Ufer, wo der Fluss noch sauber und breit genug ist, dass er ihnen Sicherheit bietet.

Die Dunkelheit kommt früh, und so wird es noch einige Wochen lang bleiben. Der Himmel, eisblau hinter den Wipfeln der Weiden und Pappeln, flammt für kurze Zeit rosenrot auf, dann verglüht er zu Indigo. Ende Februar am Platte River; der kalte Nachtdunst hängt über dem Fluss und überzieht die Stoppelfelder des vergangenen Herbsts mit weißem Raureif. Die aufgeregten Vögel, groß wie Kinder, stehen dicht gedrängt, Flügel an Flügel, an diesem Abschnitt des Flusses, den die Erinnerung sie zu finden gelehrt hat.

Wie seit Urzeiten versammeln sie sich zum Ende des Winters hier am Ufer, bedecken wie ein Teppich das Sumpfland. In diesem Licht erinnern sie fast noch an Saurier: die ältesten Flugtiere der Erde, nur einen zaghaften Schritt entfernt vom Pterodaktylus. Als es endgültig dunkel wird, ist es wieder eine Welt der Anfänge, der gleiche Abend wie damals, als vor sechzig Millionen Jahren diese Wanderung begann.

Eine halbe Million Vögel – vier Fünftel aller Kanadakraniche auf der Erde – versammeln sich an diesem Fluss. Sie folgen dem Central Flyway, der Zugroute, die sich einer riesigen Eieruhr gleich über den gesamten Kontinent legt. Sie kommen aus Neumexiko, Texas und Mexiko, legen Tag für Tag Hunderte von Meilen zurück und haben noch Tausende vor sich, ehe sie ihre in der Erinnerung eingeprägten Nistplätze erreichen. Für einige Wochen beherbergt dieser Flussabschnitt den meilenlangen Vogelschwarm. Doch wenn der Frühling beginnt, erheben sie sich in die Lüfte und verschwinden, folgen ihrem inneren Kompass bis hinauf nach Saskatchewan, Alaska oder noch darüber hinaus.

Dieser Flug steht außerhalb der Zeit. Etwas lässt diese Vögel einer Route folgen, die schon Jahrhunderte alt war, als sie sie von ihren Eltern erlernten. Und jeder Kranich erinnert sich an den Weg, der noch in der Zukunft liegt.

Auch heute Abend kreisen sie wieder über dem verzweigten Wasserlauf. Noch für eine Stunde ertönen ihre Rufe, bis der Himmel sich leert. Die Vögel schlagen nervös mit den Flügeln, unruhig von der Wanderung. Einige zupfen bereifte Halme aus dem Boden und schleudern sie in die Luft. Sie sind so gereizt, dass sie anfangen zu kämpfen. Doch schließlich kommen sie zur Ruhe und schlafen, auf einem Bein stehend und immer noch wachsam, die meisten im Wasser, einige wenige weiter oben auf den Stoppelfeldern.

Quietschende Bremsen, das Kreischen von Metall auf Asphalt, ein erstickter Schrei, dann ein zweiter wecken den Schwarm. Der Truck fliegt im hohen Bogen durch die Luft und bohrt sich in das Feld. Ein Schwall von Erde prasselt auf die Vögel nieder. Sie schrecken auf und schlagen mit den Flügeln. Der Teppich erhebt sich verstört in die Lüfte, kreist über dem Fluss und landet wieder. Schreie wie von Kreaturen, scheinbar doppelt so groß wie sie, sind meilenweit zu hören, doch schließlich verhallen sie.

Als der Morgen anbricht, hat es diese Laute nie gegeben. Wieder herrscht nur das Hier und Jetzt, das geflochtene Band des Flusses, ein Festmahl aus verstreuten Körnern, das diese Vögel nach Norden tragen wird, bis über den Polarkreis hinaus. Beim ersten Lichtstrahl erwachen die lebenden Fossilien wieder zum Leben, noch unsicher auf den Beinen schmecken sie die frostige Luft, springen in die Höhe, die Schnäbel gen Himmel gereckt, die Kehle weit aufgerissen. Und als hätte die Nacht nichts genommen, vergessen die Kraniche alles außer diesem Moment in der Morgendämmerung und beginnen zu tanzen.

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