Читать книгу Reformierte Theologie weltweit - Группа авторов - Страница 12
1. Von der Besonderheit des Bekenntnisses
ОглавлениеAusweislich des Protokolls der Sitzung der Göttinger Theologischen Fakultät am 12. Mai 1921 wird Barths Lehrtätigkeit ausdrücklich auf die «Einführung in das reformierte Bekenntnis, reformierte Glaubenslehre und reformiertes Gemeindeleben» beschränkt.3 Barth musste sich also unweigerlich intensiv mit dem reformierten Bekenntnis und seiner Tradition |26| beschäftigen. Gleich in seinem ersten Semester hält Barth eine Vorlesung über den Heidelberger Katechismus. Es folgen Vorlesungen über Calvin4 und Zwingli5 und im Sommer 1923 eine Vorlesung über die Theologie der reformierten Bekenntnisschriften6. In dieser Zeit erwirbt Barth nicht nur umfängliche Kenntnisse über das reformierte Bekenntnis und die reformierten Bekenntnisse, sondern er bestimmt zugleich auch sein eigenes Verhältnis zur reformierten Tradition und erarbeitet sich ein eigenes Verständnis von der Bedeutung und Reichweites eines Bekenntnisses einschliesslich der damit verbundenen Konsequenzen. Das bedeutet weniger, dass er nach seinem persönlichen Zugang zu den Bekenntnissen fragt, wohl aber, dass er konsequent die Forderung erhebt, dass es nicht allein darum gehen könne, die reformierten Bekenntnisse zu pflegen, sondern auch die Art und Weise dieser Pflege habe eine reformierte zu sein. Es reiche nicht aus, die reformierten Bekenntnisse in Ehren zu halten und sich an ihnen zu orientieren, sondern es komme auf einen seinerseits ausdrücklich reformierten Umgang mit ihnen an, der sich durchaus von dem lutherischen Umgang mit den Bekenntnissen unterscheidet.
Ich möchte dies an einem konkreten Beispiel veranschaulichen. Gerade weil es in diesem Beispiel um die Frage eines erst zu formulierenden Bekenntnisses geht, wird an ihm besonders deutlich, was für Barth mit einem Bekenntnis auf dem Spiele steht. Am 30. Juni 1924 erhielt Barth vom Generalsekretär des Reformiertes Weltbundes, John Robert Fleming, die offizielle Anfrage, ob er bereit wäre, in einem Vortrag auf der zwölften Generalversammlung 1925 in Cardiff auf die Frage zu antworten, ob eine gemeinsame Glaubenserklärung bzw. Bekenntnis für die reformierten Kirchen der Welt wünschenswert und möglich sei.7 Das ist eine Frage, |27| die den Reformierten Weltbund schon länger bewegt hat und offenkundig bis heute immer wieder aufbricht, wenn erneut nach der reformierten Identität gefragt wird.8
In der veröffentlichten Langfassung des Vortrags formuliert Barth folgende konzise Definition für ein Bekenntnis im reformierten Verständnis:
«Ein reformiertes Glaubensbekenntnis ist die von einer örtlich umschriebenen christlichen Gemeinschaft spontan und öffentlich formulierte, für ihren Charakter nach aussen bis auf weiteres massgebende und für ihr eigenes Lehren und Leben bis auf weiteres richtunggebende Darstellung der der allgemeinen christlichen Kirche vorläufig geschenkten Einsicht von der allein in der Heiligen Schrift bezeugten Offenbarung Gottes in Jesus Christus.»9
Beim einmaligen Hören lassen sich die vielen Aspekte kaum fassen, die in dieser kompakten Definition stecken. Da stehen relativierende Aspekte (örtlich, bis auf weiteres, vorläufig geschenkte Einsicht) neben anderen, in denen die Verbindlichkeit annonciert wird (massgebend, richtunggebend, allgemeine christliche Kirche). Das entscheidende Kriterium wird am Schluss genannt: die Offenbarung Gottes in Jesus Christus, wie sie in der Heiligen Schrift bezeugt wird – eine Assoziation zu der ersten These der einige Jahre später verabschiedeten Barmer Theologischen Erklärung drängt sich geradezu auf. Doch bevor wir auf die theologische Kriteriologie zu sprechen kommen, wollen wir uns zunächst mit den äusseren Anforderungen beschäftigen, unter denen sich für Barth die Formulierung |28| eines Bekenntnisses als sinnvoll und dann eben auch als notwendig darstellt.
Die entscheidende Anforderung ist die, dass ein Bekenntnis konkret sein muss. Aus dieser Anforderung leiten sich im Grunde alle weiteren Anforderungen ab. Was aber meint hier «konkret»? Um dies näher erfassen zu können, müssen wir uns den spezifischen Akzent ansehen, den Barth für das reformierte Kirchenverständnis reklamiert. Gewiss gilt für die Kirche entschieden, dass sie eine über die ganze Erde verstreute und somit im substantiellen Sinne eine katholische, d. h. universale Kirche ist. In ihr wird auf das Wort Gottes gehört, geglaubt, geliebt und gehofft, ohne dass es eine Rolle spielt, wie weit die Glieder dieser Kirche voneinander entfernt sind. Für das tatsächliche Leben der Kirche kommt es aber entscheidend darauf an, dass die Kirche nicht nur hört, sondern die im Hören sich ihr erschliessende Freiheit ergreift und auf das Gehörte antwortet. Sie bekennt nun ihrerseits, was sie gehört hat und was es deshalb unter ihren konkreten Bedingungen zu bezeugen gilt.
Eine recht hörende Kirche wird notwendig zu einer bekennenden Kirche. Das Bekenntnis ist dabei wohlgemerkt nicht das Sammelgefäss der Wahrheit Gottes, in dem die Kirche nun diese Wahrheit aufbewahrt, sondern die jeweils von der Kirche und somit von auch fehlbaren Menschen zu gebende Antwort – Barth nennt es auch eine «Empfangsbestätigung»10. Zwar bezieht sich das Bekennen auf das, was Gott gesagt hat, es formuliert aber das, was der Mensch gehört hat und ist insofern konsequent vom Wort Gottes zu unterscheiden. Es steht nicht für die Aktion Gottes, sondern ist die Reaktion des Menschen, mit der er kundgibt, dass er etwas vernommen hat, was sein Leben in einen neuen Horizont versetzt und somit Folgen für seine Wahrnehmungen der Wirklichkeit hat.
Solches Antworten vollzieht sich jedoch nicht in einer die ganze Welt umspannenden Allgemeinheit – es ergeht sich nicht in einer immer auch problematischen Zusammenstellung von Richtigkeiten –, sondern immer nur in einer konkreten geschichtlichen Situation, in einem benennbaren Lebenszusammenhang, unter einigermassen überschaubaren Umständen. Gott steht kein abstrakter Mensch gegenüber, sondern immer nur konkrete und somit durchaus unterschiedliche Menschen, die von Gott in |29| ihren unterschiedlichen Situationen angesprochen werden und nun ihrerseits darauf reagieren. So wie die Rede von «dem Menschen» eine Abstraktion darstellt11, so kann auch die Rede von der Kirche zu einer Abstraktion werden, wenn dabei nicht die konkrete Kirche im Blick ist, in der man sich jeweils befindet.12 Darin sieht Barth ein zentrales Element der reformierten Ekklesiologie.13 In dem hier gemeinten Antworten geht es im umfassenden Sinn um das Handeln der Kirche, welches eben immer auch Entscheidung voraussetzt – nicht Entscheidung zum Glauben, sondern Entschiedenheit und Entscheidung im Glauben.14
Wenn das Handeln der Kirche tatsächlich die Lebensumstände der Menschen tangieren soll, wird es das Handeln einer benennbaren Gemeinde bzw. lokalen Kirche sein müssen. Die Verabschiedung des corpus christianum durch die reformierten Reformatoren brachte nicht nur beiläufig, sondern durchaus entschlossen ein gewisses kongregationalistisches Ferment mit sich, das sich in Barths Kirchenverständnis deutlich zurückmeldet, nicht als Zurückweisung des Motivs der Universalität der Kirche, wohl aber als Schutzwall gegen die Versuchung, sich mit mehr oder weniger verbindlichen Allgemeinheiten zufrieden zu geben. In dem lutherischen Festhalten am mittelalterlichen corpus christianum diagnostiziert Barth einen vor allem politisch motivierten «rückwärts orientierten Sinn»15.
Die deutliche Relativierung von ökumenischen Bekenntnissen für die Gesamtkirche zielte nicht auf eine Schwächung der Katholizität der Kirche, sondern stand im Gegenteil gerade im Zeichen ihrer Konkretisierung. In diesen Sinne ist es zu verstehen, wenn es an anderer Stelle bei Barth heisst: «Der legitime Weg zur Universalität ist hier also gerade die Partikularität.»16 Auch die Katholizität bedarf der Konkretisierung und ist |30| eben nicht ein Rückzugsraum für vom Leben der Ortskirche unberührbare Wahrheiten. Das Bekennen der Kirche bliebe weit unter dem zu erwartenden Niveau, wenn es die Kirche dabei belassen wollte, der Welt ein paar immer richtige Einsichten oder Forderungen zuzurufen, die im besten Fall damit rechnen können, freundlich zur Kenntnis genommen zu werden. Wenn Barth von der «unerbittlichen Konkretheit des reformierten Kirchenbegriffs» spricht17, tritt er der gerade von den Kirchen so gern ergriffenen Flucht in die Unverbindlichkeit entgegen.
Das Bekenntnis im Sinne des angesprochenen Antwortens ist weniger öffentliche Verlautbarung oder Deklaration, als vielmehr «Akt, Ereignis, Handlung»18. Die Universalität der Kirche gibt es grundsätzlich nicht anders als örtlich, und da ist sie eben auch zur Geltung zu bringen, nicht als eigenwillige Individualpräsentation, sondern in einer vor der ganzen Kirche zu verantwortenden konkreten Gestalt. Deshalb betont Barth auf der einen Seite die Partikularität: «Wir, hier, jetzt – bekennen dies!» und hält diese aber stets auf der anderen Seite mit dem Anspruch verbunden, eben dies im Namen der einen Kirche zu tun.19 Für Barth ist das Bekenntnis in reformierter Perspektive «[u]niversal-christliche Wahrheit, aber jetzt und hier in bestimmter Weise erkannt und ausgesprochen von einer christlichen Gemeinde».20
Eine letzte Anforderung, die Barth für ein Bekenntnis der Kirche erhebt, besteht in seiner Dringlichkeit, die keineswegs immer gegeben ist, der aber da, wo sie gegeben ist, nicht ausgewichen werden darf. Vielmehr hat sich die Kirche in diesem Fall entschieden und öffentlich zu positionieren. «Jedes andere Credo ist ein fauler Zauber und vom Teufel, und wenn es wörtlich das Apostolikum wäre», heisst es provokant.21 Ein solches in der Bedrängnis gesprochenes Bekenntnis fällt nicht einfach vom Himmel, sondern ihm geht ein ernsthaftes Ringen um seine Angemessenheit und Deutlichkeit voraus.
«Vor einem Bekenntnis ohne charakteristische biblische Einsichten, ohne Narben vorangegangenen Kampfes, ohne notwendiges Anliegen, |31| vor einem dogmatisch bedeutungslosen, wohl gar bedeutungslos sein wollenden Bekenntnis, davor behüte uns, lieber Herre Gott!»22
Deshalb ist es auch mit der Rezitation der alten Bekenntnisse nicht getan, wenn nicht zumindest ein authentischer Kommentar dazu gegeben wird. Die ungeprüfte Wiederholung bereits von der Kirche formulierter Einsichten, also eine rein traditionsgebundene Orthodoxie stellt Barth später sogar unter den Verdacht der Häresie.23 Es kann nicht darum gehen, dass die Kirche zu jeder Gelegenheit und zu Allem das Wort erhebt, sondern dass sie da, wo sie aufgrund ihrer Bindung an das Wort Gottes das Wort erheben muss, dies auch in der ihr gegebenen Freiheit und Deutlichkeit tut.
Dieser Dringlichkeit, ja Unausweichlichkeit entspricht dann auf der anderen Seite auch die Verbindlichkeit. Gewiss auch nur «vorläufig», d. h. «bis auf weiteres» – wie es in der zitierten Definition geheissen hat –, jetzt aber gilt es, d. h. es ist für die Kirche «richtunggebend»24. In diesem Sinne formuliert das Bekenntnis eine Wahrheit, von der man sich nicht einfach abkehren kann, ohne sich nicht zugleich von der Kirche insgesamt abzuwenden. Es geht um Dogmatik im Vollzug: Dogmatik, indem die Angemessenheit des Gotteszeugnisses der Kirche zur Debatte steht, aber eben im Vollzug, weil das Gotteszeugnis von einer konkreten Situation herausgefordert wird, auf die es auch bezogen ist. 25
Das, was Barth hier mit seinen Ausführungen für den Reformierten Weltbund zu bedenken gibt, findet dann acht Jahre später in der Barmer |32| Theologischen Erklärung, an der Barth bekanntlich massgebend beteiligt war, seinen exemplarischen Ausdruck. Alle Anforderungen, die Barth an ein Bekenntnis im reformierten Sinne stellt, lassen sich hier in pointierter Weise demonstrieren, was jetzt nicht weiter vertieft werden soll.
Barth kann sich auch eine Beschäftigung der Kirche mit ihren Bekenntnissen vorstellen, über die sie das eigene Bekennen versäumt. Angesichts seiner Bewertung der Verabschiedung des Barmer Bekenntnisses als ein Wunder26 wird man davon ausgehen können, dass dies in seinen Augen wohl eher die Regel als die Ausnahme ist. Deshalb ist hervorzuheben, dass es bei der Frage nach dem rechten Bekenntnis entschieden nicht um die Verwaltung und Vergegenwärtigung eines bereits erworbenen Lehrbestandes gehen kann. Nicht die konfessionell reformierten Bekenntnisse haben Barth geprägt, so sehr er sie im Einzelnen durchaus geschätzt hat, sondern die reformierte Affinität zum Bekennen als einer Fundamentalbestimmung der Kirche. An die Stelle des Konfessionellen rückt das Konfessorische. Wenn es darauf ankommt, Barth mit der reformierten Tradition in Beziehung zu setzen, wird wohl dieses von ihm herausgestellte dynamische Prinzip in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden müssen. Jede andere Bindung an das Reformiertentum würde Barth wohl als im eigentlichen Sinne unreformiert bezeichnen.