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4. Zum Schluss: Ein reformierter Reformierter

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Wenn von Karl Barth als einem reformierten Theologen die Rede sein soll, bleibt zu beachten, dass sich Barth in einer ganz spezifischen Weise auf reformierte Wurzeln beruft. Er sah es als notwendig an, die Tradition zu kennen und mit ihr in Gespräch zu treten.58 Aber es ist nicht die Tradi­tion, die ihn bei aller Orientierung, die sie zu geben vermag, bewegt, son­dern die treibende Kraft sieht er in der Haltung und Perspektive, wie sie ihm vor allem aus der Zeit des reformierten Aufbruchs als energische Rückbesinnung der Kirche auf ihren tragenden Grund und ihre konkrete |43| Bestimmung vor Augen steht.59 Es ist dieses dynamische und in gewisser Hinsicht rückhaltlose reformatorische Drängen auf das rechte Hören des Wortes Gottes und die sich daraus ergebende Gestaltung der Kirche und des ganzen Lebens, in denen sich Barth an die reformierte Tradition ge­bunden weiss. Aus dieser spezifischen Bindung bezieht er dann eine weithin beispiellose Freiheit für respektvolle und durchaus würdigende und zugleich überaus weitreichende Umstellungen und Neuakzentuie­rungen, die ihn einerseits als Kenner der Tradition ausweisen und zu­gleich als einen ebenso konsequenten wie auch überraschenden Neuge­stalter der Theologie in Erscheinung treten lassen.

Für Barths spezifische reformierte Haltung scheinen mir folgende fünf Akzente im Vordergrund zu stehen:

1. Im Zentrum steht das Vertrauen in die Bibel als das orientierende und als solches durch nichts zu ersetzende oder zu überbietende mensch­liche Zeugnis von Gottes Geschichte mit dem Menschen. Auf ihm liegt die besondere Verheissung, zum jeweils lebendigen Wort Gottes zu wer­den, indem es durch eben den Geist zu uns spricht, der die Verfasser, Sammler und Redaktoren dazu gebracht hat, diese Texte zusammenzu­halten, so dass sie von Gott immer wieder dazu geheiligt werden, sein lebendiges Wort vernehmbar werden zu lassen. Es ist diese unverfügbare Dynamik, durch welche das biblische Zeugnis immer wieder zu der Of­fenbarung werden kann, auf welche die Kirche schlechterdings angewie­sen ist, wenn es darum geht, nicht nur die menschlichen Gedanken über Gott zur Sprache zu bringen, sondern Gottes Handeln an den Menschen, seinen Willen und seine Absichten, die nur dann zu vernehmen sind, wenn sie von ihm selbst erschlossen werden. Von Gott gibt es nur etwas zu hören, wenn er selbst spricht. Und das, was er spricht, ist seinem We­­sen nach etwas grundsätzlich anderes, als was wir uns auch selbst sagen könn­ten. Es ist diese vor allem auf dem biblischen Zeugnis liegende Of­fen­barungsverheissung, die ihm seine Unvergleichlichkeit verleiht und es je und je zur Heiligen Schrift macht.

2. Für Barth ist es entscheidend, dass das Wort Gottes das Wort Gottes bleibt und eben nicht zu einem mehr oder weniger mirakulösen Ereignis der Vergangenheit verkommt, das nun von der Erinnerungsgemeinschaft |44| der Kirche lebendig gehalten wird. Käme es dabei auf die Kirche an, gäbe es wenig Anlass, die Hoffnung auf das Wort Gottes zu setzen. Barth sieht sie weithin mehr mit der Behinderung des Wortes Gottes beschäftigt als mit seiner lebendigen Verbreitung. Dass aber dennoch das Wort Gottes heute vernehmbar ist, ist der Lebendigkeit Gottes selbst zuzuschreiben, in der er sich auch der Kirche bedient, so sehr diese auch versucht, den Sturzbach des lebendigen Wassers in ruhige und gemächliche Kanäle zu leiten. Barth macht dies zum zentralen Thema im dritten Band seiner Versöhnungslehre (KD IV/3).60

3. Indem das Bekenntnis auf der Seite des Menschen angesiedelt ist, kann es grundsätzlich nur relative Autorität beanspruchen. Die teilweise in der lutherischen Kirche gepflegte Kühnheit, von der Inspiriertheit der Bekenntnisschriften zu sprechen, registriert Barth immer mit erkennba­rem Befremden.61 Ganz abwegig ist die Vorstellung, dass in dem Bekennt­nis die Wahrheit zusammengefasst sei, denn diese gerät ihrem Wesen nach nicht in die Hände und die Regie des Menschen, sondern bleibt in der Macht des Geistes Gottes, in welcher sie sich hier und da klaren Aus­druck verschafft. In diesem Sinne bleibt das Bekennen wichtiger als das rezitierbare Bekenntnis. Das Engagement soll der jeweils konkreten Ant­wort auf Gottes Anrede in den jeweiligen geschichtlichen Umständen gelten. Barth hat die permanente Gefahr vor Augen, dass die Energie, welche die Kirche für die Bewahrung ihres Bekenntnisses und die vor allem museale Pflege ihres Bekenntnisstandes aufbringt, ihr dann in der Bewährung des konkreten Bekennens fehlen könnte.

4. Mit der Relativierung des Wortlauts verbindlicher Lehre verbindet sich eine besondere ökumenische Offenheit, die Barth essenziell der recht verstandenen reformierten Tradition zurechnet. Sobald eine Kirche für sich ausser dem biblischen Zeugnis auch noch anderes für verbindlich erklärt, etabliert sie exklusive Elemente in ihrem Selbstverständnis, die sich dann zwangsläufig als Hürde im Umgang mit anderen Kirchen er­weisen. Je mehr |45| solcher Hürden eine Kirche im Laufe ihrer Geschichte aufgerichtet hat, umso unbeweglicher erweist sie sich in der ökumeni­schen Kommunikation mit anderen Kirchen, umso unfähiger wird sie für wirkliche ökumenische Beziehungen. Der Verzicht auf die Etablierung solcher Hürden bedeutet ja keineswegs den Verzicht auf prägnante theo­logische Lehre, aber diese Lehre wird weniger als Grenzziehung als viel­mehr als ein zu weiterer Klärung einladender vorläufiger Erkenntnis­stand verstanden. Es kommt nicht auf gemeinsam zu formulierende Dog­men an, wohl aber auf die gemeinsame Blickrichtung, von der sich die Kirche die entscheidende Orientierung in ihren jeweils neu zu formu­lierenden Erkenntnissen erhofft. Ohne ein ausgewiesenes Mass an Selbst­relativierung kann die Kirche die zu ihrem Wesen gehörende Öku­me­ni­zi­tät nicht tatsächlich wahrnehmen.

5. Es geht Barth bleibend um das Anliegen, das er im Blick auf Calvin in der besonderen Aufgabe der zweiten Generation der Reformation her­ausgestellt hat.62 Ich möchte es einmal die Erdung der reformatorischen Theologie nennen.63 Die erste Generation hat die Kirche, die sich im ausge­henden Mittelalter ganz und gar an die horizontale Dimension ihrer irdischen Gestaltung verloren hatte, wieder an die sie konstituierende vertikale Dimension erinnert und diese eben dadurch ausgezeichnet, dass alles andere radikal relativiert wurde. Ohne den Paukenschlag, der hier insbesondere von Luther in unüberhörbarer Deutlichkeit zu vernehmen war, wäre wohl kaum Bewegung in die erstarrte Situation gekommen. Auf der anderen Seite hat die emphatische Konzentration auf den Glau­ben die dann auch eintretende Gefährdung mit sich gebracht, ihn zu einer leiblosen Angelegenheit werden zu lassen. Es war die keineswegs einfa­che und wohl auch unabschliessbare Aufgabe der zweiten Generation – und dies heisst für Barth reformiert sein –, das Charisma der von der ers­ten Generation wieder in den Blick gerückten vertikalen Dimension nun auch wieder mit der horizontalen Dimension zu verbinden, um den Glauben so ins Leben zu ziehen, dass er nicht nur rechtfertigt, sondern eben auch heiligt.64 Erst in der Heiligung des Menschen kommt die Versöh­nung an ihr Ziel, und deshalb bleibt auch der Zusammenhang von der Rechtfertigung mit diesem Ziel eigens zu bedenken und kann nicht einfach dem Zufall und den faktisch meist sparsamen Kontingenzen der Liebe überlassen werden, wenn nicht am Ende ein sehr beschnittenes |46| ästhetisierendes Verständnis des Glaubens herauskommen soll. Das Be­kennen schliesst das konkrete Lebenszeugnis mit ein – indem Barth dies betont, ist er bewusst reformiert.

Generell bleibt zu betonen, dass nur das in den Augen Barths tatsäch­lich als reformiert gelten kann, was sich tatsächlich ständig reformiert. Barth ist darin ein reformierter Reformierter, dass er sich in Wahrneh­mung seiner gegenwärtigen theologischen Verantwortung dazu gedrängt sieht, auch selbst vorgetragene Einsichten erneut zu reformulieren, um der menschlich erreichbaren Prägnanz eine grösstmögliche Klarheit zu ver­­leihen. Das Wissen um unsere Angewiesenheit auf den Heiligen Geist er­­laubt einerseits keine Nachlässigkeit in der Genauigkeit unseres Den­kens, wie es andererseits von einer grundsätzlichen Vorbehaltlichkeit ge­prägt sein sollte. Es gibt keinen theologischen Satz, der nicht auch in missbräuchlicher Weise benutzt werden kann – auch nicht das «Soli Deo glo­ria»65 –, und so gilt es, immer auf den Zusammenhang und das Gefälle zu achten, damit am Ende nicht ein vielleicht systematisch stimmiges, tat­sächlich aber lebloses und darin gottloses theologisches Konstrukt an die Stelle eines pünktlichen Denkens im Dienst eines lebendigen Zeugnisses tritt. Es geht um die theologische Entsprechung zu der die Welt verän­dernden Dynamik des Wortes Gottes. In diesem Sinne bestand Barths freies Reformiertsein in dieser Gleichzeitigkeit von klarer Entschiedenheit und prinzipieller Vorläufigkeit, die ihn immer wieder vor allem auf die Bitte um den Heiligen Geist geführt hat.

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