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Was heisst eigentlich «reformiert»?

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Einleitende Bemerkungen zur Frage nach der re­formierten Identität und dem vorliegenden Buch­projekt

Marco Hofheinz/Matthias Zeindler

Die Frage nach der reformierten Identität ist virulent – auch und nicht zuletzt in der Schweiz. Aus den unterschiedlichsten Gründen tun sich viele äusserst schwer mit konfessioneller Identität:1 Sei es aus allgemeiner religiöser Indifferenz; sei es, dass sie reformierte Identität mit der jeweils eigenen vorfindlichen Kirchlichkeit gleichsetzen; sei es, dass sie konfes­sio­nelle Identität mit konfessioneller Spaltung2 und provinzialistischer Klein­­geisterei identifizieren und sie als eine Art Hemmschuh von Öku­mene,3 interkonfessioneller und interreligiöser Begegnung erachten;4 sei es, dass sie ein klares Profil und scharfe Konturen vermissen, da sich das Re­­formiertentum – anders als etwa das Luthertum oder der Katholizis­mus – nicht durch den Be­zug auf einen Bekenntniskanon wie das Kon­kor­dien­buch (1580) oder den Ver­­­weis auf den höchsten Würdenträger im Vatikan bildet. Es wäre ignorant, wollten Theologie und Kirche den Be­fund bezweifeln, dass viele Men­schen – bis in die Kreise der kirchen­treuen |10| Gemeindeglieder und der Theologiestudierenden hinein – nicht wissen, warum sie reformiert sind, bzw. was es überhaupt bedeutet, re­formiert zu sein. Eine zutreffende De­fi­nition des Wesens des Reformier­tentums und seiner Erscheinungs­wei­­sen bereitet grosse Schwierigkeiten.5 Dementsprechend schiessen viele Vorur­teile im Blick auf das Reformier­tentum ins Kraut.6 Man wird dies nicht verübeln dürfen, zumal sich diese Frage nicht eilfertig durch (histo­risie­rende) Verweise auf das historische Erbe und auch nicht aus der em­pi­rischen Erhebung eines Ist-Zustandes beantworten lässt.

Nun ist es keineswegs so, dass die Frage nach der reformierten Iden­tität eine völlig neue Frage darstellt,7 sondern vielmehr eine Frage, die be­reits seit dem sogenannten konfessionellen Zeitalter8 virulent ist und auch in den verschiedenen theologischen und gesellschaftlichen Kontexten des 20. Jahr­hunderts brisant wurde und zu neuen Antwortversuchen nötigte.9 So stellte etwa der Theologe Wilhelm Niesel in seiner viel­be­ach­­te­ten Schrift «Was heisst reformiert?»10 angesichts der Heraus­for­­derungen der |11| beginnenden nationalsozialistischen Herrschaft explizit diese Frage. Wenn man so will, zieht sich diese Frage wie ein roter Faden durch das gesamte 20. Jahrhundert und durch die verschie­denen Kon­tex­te, in denen jeweils neu theologisch explorierte und ge­schichtlich, kul­­­tu­rell und ge­sellschaft­lich vermittelte Antworten auf diese Frage gegeben wur­den. Der vor­liegende Band möchte diesen Antworten nachgehen und sie gleichsam in ihrem jeweiligen Kontext im 20. Jahrhundert aufsuchen.

Dies ist deshalb nötig, weil die Frage nach der konfessionellen Identi­tät nicht unabhängig vom gesellschaftlichen Kontext gestellt werden kann, in dem sich die jeweilige Identität ausprägt(e). Reformierte Identität bildet sich im Oszillieren zwischen aktuellen, situativ im jeweiligen Kon­text wahrgenommenen Herausforderungen, traditionellen Bindungen durch Kultur, Gesellschaft, konfessionelle Prägung und den lebendigen Be­zügen auf die normativ vorgeordnete Heilige Schrift Alten und Neuen Testa­ments.11 Reformierte Identität entsteht in dieser spezifischen We­chsel­wir­kung, gleichsam im spannungsreichen Wechselverhältnis von Text und Kontext,12 die als Begründungs- und Entdeckungszusammen­hang13 theo­logischer Erkenntnisse und Einsichten fungieren. Wer über die Iden­tität reflektiert, ohne dabei den Kontext, in dem sie gebildet wird, zu berück­sichtigen, gelangt unvermeidlich zu einem reduktiven, weil gleich­sam «ortlosen» Begriff von Identität und damit häufig zu gravierenden Miss­verständnissen |12| über sich selbst. Hingegen ist für die Identität die Ein­bin­dung in den Kontext von konstitutiver Bedeutung.14 Diese Einsicht bildet die hermeneutische Grundlage des vorliegenden Bandes.

Da das Reformiertentum, genauer: die reformierte Konfessionsfami­lie15 ein auf verschiedene Länder – wie etwa Südkorea, Südafrika, die USA und die Niederlande – bezogenes globales Phänomen darstellt,16 darf es nicht ausbleiben, die unterschiedlichen Kontexte auf verschiede­nen Kontinenten aufzusuchen. Dies ist auch aus einem weiteren Grund un­umgänglich, auf den Alasdair I.C. Heron aufmerksam macht:

«Schon der Begriff ‹reformiert› – wie etwa in ‹reformierte Kirche› oder ‹re­formierte Theologie› – ist mehrdeutig, je nach dem, in welchem Zu­sam­menhang bzw. von wem er verwendet wird. […] Die Assoziatio­nen und Resonanzen des Wortes ‹reformiert› haben die Eigenart, in ver­schiedenen Kontexten verschiedene Schwingungen zu erzeugen.»17

Die Pluralität der Kontexte ist bereits charakteristisch für die Entstehung der nach Gottes Wort reformierten Kirchen,18 insofern jene «ein plurales |13| Er­eignis»19 war. Das hat damit zu tun, «dass reformierte Gemeinden in heil­samer Weise gezwungen waren, ihren Glauben in Annäherung und Widerstand kontextuell zu bekennen und zu gestalten».20

Indes gilt dies nicht nur für die Genese, sondern auch die gegenwär­tige Gestalt der reformierten Kirchen – einschliesslich ihrer jeweiligen Be­kennt­nistradition und Denkbewegungen: Es geht im reformierten Pro­testantismus

«immer um Bekenntnis, Kirche, Gottesdienstgestaltung und Theologie im Plural. Diese weltweite Pluralität in den kirchlichen Gestaltungs­for­men und theologischen Denkbewegungen kann geradezu als ein We­sens­merkmal des reformierten Protestantismus betrachtet wer­den».21

Ein Einheitsbekenntnis22 ist dem reformierten Protestantismus ebenso fremd wie eine Einheitskirche oder eine Einheitsliturgie23. Ein reformier­tes |14| Bekenntnis und eine reformierte Kirche wie Liturgie gibt es nur im Plural. Das hängt damit zusammen, dass Bekennen und Gemeindebil­dung als tätiger Schriftgehorsam verstanden werden. So heisst es bereits im Berner Synodus von 1532:

«Wird uns aber von Pfarrern und von anderer Seite etwas vorgebracht, was uns näher zu Christus führt und was nach Massgabe des Gottes­worts allgemeiner Freundschaft und christlicher Liebe zuträglicher ist als die jetzt hier verzeichnete Meinung, so wollen wir das gern an­neh­men und dem Heiligen Geist seinen Lauf nicht sperren.»24

Dementsprechend verbirgt sich auch hinter dem Titel des vorliegenden Buches «Reformierte Theologie weltweit» nicht die homogene Gestalt einer Einheits- bzw. Normaltheologie, sondern ein pluriformes Spektrum. Ansichtig werden vielmehr ganz unterschiedliche theologische Profile, die wiederum aus ganz unterschiedlichen Kontexten stammen. Refor­mierte Theologie ist immer datierte Theologie. Es gibt sie nicht im Singu­lar. Sie ist und bleibt ein Pluraletantum.

Das genannte Vorgehen des Aufsuchens der verschiedenen Kontexte, das nötig ist, um «reformierte Theologie weltweit» in Augenschein zu neh­men, kann selbstverständlich nur exemplarisch erfolgen. Dies setzt den vorliegenden Band unvermeidlich dem Vorwurf der Willkür aus. Zur Subjektivität der Auswahl gesellt sich die ebenso unvermeidbare Lücken­haftigkeit der vorliegenden Sammlung hinzu. Die Beschränkung, die sowohl bezüglich der Kontexte als auch der einzelnen Vertreterinnen und |15| Vertreter besteht und im Blick auf die wir auf verständnisvolle Leserin­nen und Leser hoffen, schmerzt, da notwendigerweise wichtige theologi­sche Profile wie etwa die der Schweizer Martin Werner, Fritz Buri und Ulrich Neuenschwander oder die der Niederländer Hendrik Kraemer, Arnold A. van Ruler, Gerrit C. Berkouwer und Hendrik Berkhof unbe­rücksichtigt bleiben müssen, um nur einige Europäer zu nennen. Auch müs­sen hier die bisweilen als «neocalvinistisch» bezeichneten reformier­ten Aufbrüche vor dem Ersten Weltkrieg, die ein neues konfessionelles Interesse unter den Bedingungen der Moderne erkennen lassen (u. a. in den Niederlanden: Abraham Kuyper, Herman Bavinck; in Österreich: Eduard Böhl, Josef Bohatec; in Nordamerika: Benjamin B. Warfield; in Deutschland: Wilhelm Kolfhaus; in Frankreich: Auguste Lecerf), ausge­spart werden.25 Ein Anspruch auf Vollständigkeit wäre vermessen. So kön­nen nur einzelne Porträts bedeutsamer reformierter Theologinnen und Theologen gezeichnet werden, die sich in ihrem jeweiligen Kontext den jeweils aktuellen gesellschaftlichen und politischen Herausforderun­gen gestellt und die Frage nach reformierter Identität beantwortet ha­ben.26 Dabei wirkte der gesellschaftliche und kulturelle Kontext nicht nur auf ihre Theologie ein, sondern umkehrt wirkte auch ihre Theologie auf den gesellschaftlichen und kulturellen Kontext zurück. Auch in dieser Hin­sicht ist also eine Wechselwirkung zu beobachten. Berücksichtigt wer­den sollen im Einzelnen:

1 im Blick auf den Kontext der Krise der Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts die sogenannten Dialektischen Theologen Karl Barth aus der Schweiz und Oepke Noordmans aus den Nieder­lan­den;

2 im Blick auf den Kontext von Nationalsozialismus und Kaltem Krieg der auf der Seite der Bekennenden Kirche Widerstand leis­tende deut­sche Pfarrer und spätere Präsident des Reformierten Weltbundes Wilhelm Niesel und der international renommierte ame­rikanische Theologe und Präsidentenberater Reinhold Niebuhr;

3 im Blick auf den Kontext des ökumenischen und interreligiösen Dia­logs der erste Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kir­chen, |16| Wil­lem Adolf Visser ’t Hooft, sowie der Missionstheologe und in­dische Bi­schof J.E. Lesslie Newbigin;

4 im Blick auf den Kontext politischer Transformationsprozesse in Südafrika (Kampf gegen den dortigen Rassismus/Apartheid) und in Südkorea der südafrikanische Theologe Christiaan Frederick Beyers Naudé und die südkoreanische Theologin Soon Kyung Park;

5 im Blick auf den Kontext der Herausforderungen durch die Natur­wis­senschaften und die Moderne die beiden britischen Theolo­gen Thomas F. Torrance und Colin E. Gunton;

6 im Blick auf den Kontext von Feminismus und jüdisch-christlichem Dia­log die nordamerikanische Theologin Letty Russell sowie der deut­sche Theologe Jürgen Moltmann.

Um noch einmal die Unvermeidlichkeit der Reduktion zu betonen und das Bedauern über die Beschränkung auf eine Auswahl zum Ausdruck zu bringen: Zweifellos hätten im Einzelnen auch andere Theologinnen und Theologen als Gewährsmänner und -frauen für die Wahrnehmung der kon­textuellen Herausforderungen herangezogen werden können, im Blick auf den Kontext des Kalten Krieges etwa Emil Brunner bzw. der tschechi­sche Theologe Jan Milič Lochman, oder etwa der französische Theo­loge George Casalis bzw. der deutsche Theologe Walter Kreck mit ihren Bei­trägen zum christlich-marxistischen Dialog oder im Blick auf die Her­aus­forderungen durch die Moderne etwa Nicholas Wolterstorff und Alvin Plantinga mit ihrer «reformed epistemology». Dasselbe gilt hin­sicht­lich des ökumenischen Kontextes beispielsweise für Oscar Cull­mann, Jean-Louis Leuba, Lukas Vischer und Dietrich Ritschl, ebenso wie im Blick auf den jüdisch-christlichen Dialog für Kornelis Heiko Miskotte und Hans-Joachim Kraus.27 Die Reihe der genannten Personen und Kon­texte liesse sich mühelos erweitern.

Alle in diesem Band präsentierten Profile vereint in charakteristischer Gemeinsamkeit, dass es sich jeweils um eine zugleich lage- und sachbe­wusste und eben in dieser Verschränkung datierte Theologie handelt. In der spezifischen Zuordnung beider Akzente variieren die verschiedenen |17| Entwürfe. Und im Blick auf einige Positionen ist die kritische Rückfrage un­vermeidbar, ob nicht die «Sache» der «Lage» untergeordnet, ihr Ver­hält­nis zueinander mithin nicht verkehrt wird, so dass die Theologie gleichsam a posteriori die vorab gebildete politische Position legitimiert. Eine streng sachbezogene Theologie vertraut hingegen darauf, dass Inhalt und Struktur der Theologie selbst gleichsam politische Hinweise enthal­ten. Demzufolge geht es sicherlich nicht einfach um eine Synthese von Sache und Lage, Text und Kontext, Theologie und Politik,28 sondern um nichts anderes als um eine konsequente Theologie, die gerade darum und gerade dort eminent politisch ist, weil und wo sie nicht anders als theolo­gisch sachgerecht arbeitet.29 In besonderer Weise hat dies Karl Barth ein­ge­­schärft, der nicht nur betonte: «Wo theologisch geredet wird, da wird im­plizit oder explizit immer auch politisch geredet»30, sondern auch ge­gen­über seinem Freund Josef L. Hromádka geltend machen konnte:

«Um was es mir […] ging und geht, ist schlicht dies: dass ich nun ein­mal, seit ich hier in der Schweiz meine Erfahrungen mit dem ‹religiö­sen Sozialismus› von Kutter und Ragaz machte, seit ich dann 1921 nach Deutschland kam und dort die Jahre 1933f. miterlebte, höchst al­lergisch reagierte gegen alle Identifikationen, aber auch gegen alle sol­che Parallelisierungen und Analogisierungen des theologischen und sozial-politischen Denkens, in welchen die Superiorität des analogans (des Evangeliums) gegenüber dem analogatum (den politischen An­sichten der betreffenden Theologen) nicht eindeutig, sauber und un­umkehrbar festgehalten und sichtbar bleibt.»31 |18|

Insgesamt soll mit dem vorliegenden Buch ein Panorama reformierter Theologie(n) entstehen, deren Vertreterinnen und Vertreter sich um einen kritisch-befreienden Dialog mit ihrer jeweiligen Zeit bemühten und neue theologische Perspektiven sowohl für die theoretische als auch praktische Orientierung in den jeweils aktuellen Herausforderungen eröffnen woll­ten. Ein solches Panorama, das zugleich ein Prisma der Zeitgeschichte dar­stellt, kann – wie gesagt – nur anhand einer Reihe von Querschnitten durch die mannigfaltigen Ausprägungen reformierten Theologie im 20. Jahr­hundert gewonnen werden. Das Denken der hier vorgestellten Theolo­ginnen und Theologen spiegelt die Weite und den grossen Reich­tum an theologischen Orientierungen und Denkstilen wider, welche den refor­mier­ten Protestantismus kennzeichnen.32 Der vorliegende Band inten­diert, eine theologische und zeitgeschichtliche Begegnung mit kultu­rell und gesellschaftlich-politisch «Anderem» bzw. «Fremdem» an­zubah­­nen. Solch eine Begegnung ist im Blick auf die Frage nach der eigenen Identität unabdingbar, gilt doch die grundlegende hermeneuti­sche Ein­sicht: «Nur im Spiegel der ‹anderen› bekommen wir unsere Iden­tität zu Gesicht.»33

Identitätsbildung entsteht also nicht einfach durch Abgrenzung, son­dern im Gespräch mit den anderen Konfessionen. Gerade weil im refor­mierten Protestantismus das Gemeinsame inmitten aller Pluralitäten, der pulsierende Herzschlag in allen Differenzierungen in der Bindung der Kir­che an das Wort Gottes als lebendiger Kraft des Evangeliums (Röm 1,16) besteht, wird er das Gespräch und den Dialog mit den ande­ren, ebenfalls um das Hören des Wortes Gottes ringenden Konfessionen suchen und führen.34 Die ökumenische Ausrichtung ist «ein Akt konfessio­nell gebo­tener Selbstentsprechung»35: Weil sich das reformierte Bekenntnis als Schriftgehorsam versteht,36 erkennt es den Vollzug von Schriftgehorsam |19| in anderen Kirchen an.37 Reformierterseits meint konfessi­onelle Identität immer auch ökumenische Identität.38 Es gibt keine konfessionelle neben einer ökumenischen Identität.39 Insofern wird man Otto Webers wegwei­sen­de Bemerkung zum Vorwurf der Unionsfreudig­keit der Reformierten auch auf deren Verhältnis zur Ökumene übertragen können und müssen: «Wir können nicht aufhören, für die Union einzu­treten, weil wir sonst aufhören würden, reformiert zu sein. Das heisst, das Wort Gottes über alle kirchlichen Behauptungen zu stellen.»40 Die porträ­tierten Theologin­nen und Theologen haben je auf ihre Weise versucht, dem die Kirche im Sinne des semper reformanda41 reformierenden Wort Gottes42 Raum zu ge­ben.43 |20| Diese Intention wird man ihnen ebenso wenig absprechen dür­fen, wie man kritische Rückfragen hinsichtlich des Gelingens ihrer je­wei­ligen Um­setzung dieser Intention unterlassen sollte. Denn an dieser Inten­tion kann man auch heute die unterschiedlichen Lehrgestalten refor­mier­ter Theo­logie messen. Das semper reformanda weist Theologie und Kirche den Weg.

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