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3. Von der Mitte aus offen in alle Richtungen

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Eine dritte Facette von Barths spezifischem reformiertem Profil, die bisher kaum Beachtung gefunden hat, lässt sich in einer bemerkenswerten Poin­tierung der ökumenischen Sendung der reformierten Kirchen entdecken, und zwar in einem durchaus pragmatischen Horizont – Barth spricht hier von einer «strategischen» Tatsache54. Im Rahmen der Gründungsvollver­sammlung |40| des Ökumenischen Weltrates der Kirchen 1948 in Amsterdam gab es ein Treffen, in dem sich die reformierten Kirchen unter sich trafen, um sich über ihre Wahrnehmungen und Hoffnungen auszutauschen. In dieser Versammlung hält Barth eine relativ kurze Ansprache, in welcher er seine Optionen für das Verhältnis der Reformierten zum Weltrat der Kirchen zur Diskussion stellt. Nachdem Barth u. a. auf das besondere öku­menische Potential des calvinischen Denkens hingewiesen hat, ver­sucht er den versammelten Reformierten die ökumenische Gesamtlage des Weltrates vor Augen zu rücken. Er tut das in der Absicht, die Auf­merksamkeit einmal von den gewiss sehr unterschiedlichen Motivations­lagen, mit denen die Kirchen aufgrund ihrer jeweiligen lokalen Erfahrun­gen nach Amsterdam gereist sind, auf die Gesamtsituation der zer­split­­terten «Kirchen» – Barth notiert den Begriff in Anführungszeichen – zu lenken, um dann den reformierten Kirchen eine Rolle ans Herz zu legen, welche nicht an Partikularinteressen, sondern an einer möglichst realisti­schen Wahrnehmung der Gesamtlage orientiert ist.

«Wenn ich die ganze Fülle der hier vertretenen ‹Kirchen› überblicke, dann sehe ich einen rechten und einen linken Flügel: am äussersten rechten Flügel unsere Freunde aus den orthodoxen Kirchen, für uns recht schwer zu verstehen, als ob sie in einem gewissen Nebel zu ver­schwinden drohten. Links von ihnen, mehr zur Mitte hin, die Anglika­ner mit einer Fülle von verschiedenen Möglichkeiten, nach ihnen die Altkatholiken und dann als unsere nächsten Nachbarn zur Rechten die Lutheraner. Und wir sehen links von uns in grosser Mannigfaltigkeit: die Congregationalisten, die Methodisten, Baptisten, die Disciples of Christ. Jenseits von ihnen beginnt für uns auch auf dieser Seite die Ne­belregion, wo die Mennoniten, die Quäker, die Heilsarmee zu Hause sind, die mit Taufe und Abendmahl nichts anzufangen wissen und bei denen es dunkel erscheint, ob sie noch Kirchen sind oder nicht, ob sie es auch nur sein wollen. Dieses Ganze ist der ‹Weltrat der Kirchen›: diese lange Front von rechts nach links mit all ihren Verschiedenhei­ten, heimlichen und offenen Widersprüchen. Das Besondere unseres reformierten Ortes ist dies, dass wir uns ziemlich in der Mitte befin­den: |41| in nächster Nachbarschaft rechts mit den Lutheranern, links mit den Congregationalisten.»55

Man mag die Schematisierung und die impliziten Bestimmungen der dargestellten Szenerie beklagen. Dennoch wird sich schwerlich bestreiten lassen, dass Barth hier im Blick auf die unterschiedlichen Ekklesiologien, um die es ihm geht, etwas benennt, was durchaus eine Evidenz hat, die sich ohne weiteres weiter untermauern liesse. Während auf der rechten Seite der Ton auf der geschichtlichen Kontinuität liegt, steht auf der lin­ken Seite die Betonung der durch Wort und Geist bewegten Freiheit im Vordergrund. Wenn Barth nun die Reformierten als «katholische Protes­tanten» und als «protestantische Katholiken» bezeichnet, dann sieht er bei den Reformierten sowohl Elemente, die den rechten Flügel charakterisie­ren, als auch solche, die dem linken Spektrum näherstehen. Nun liesse sich schnell einwenden, dass immer da, wo jemand für sich die Mitte beansprucht, Skepsis angebracht ist und sehr genau hinzusehen ist. Doch Barth geht es weniger um die Beanspruchung der Mitte als vielmehr um die Warnung, nicht nur in die eine Richtung zu blicken, und das wäre eben die rechte Richtung, von der sich die Reformierten von Anfang an in besonderer Weise beeindrucken liessen, während sie zugleich der ande­ren Seite gegenüber gern die kalte Schulter zeigten – um nur die harmlo­seste Variante zu nennen. Indem Barth auf beiden Seiten bestimmte Wahrheitsmomente anerkennt, kommt den Reformierten die Aufgabe zu, sich auch tatsächlich in beide Richtungen zu öffnen und sich eben nicht nur von der manifesten Kirchlichkeit auf der Rechten beeindrucken zu lassen.

Damit wird ein Aspekt angesprochen, der im Blick auf den Protestan­tismus inzwischen insgesamt eher an Problematik zugenommen als ab­genommen hat. Wenn man etwa die Amtsdiskussion betrachtet, die weite Teile der Ökumene in Atem hält, zeigen die protestantischen Kirchen eine signifikant grössere Beeindruckbarkeit von Seiten der hochkirchlichen Traditionen, als dass sie sich dafür einsetzen, den Wahrheitsmomenten der anderen Seite, die ja immerhin ihre Wurzeln vor allem in der Refor­mation hat, auch nur ausreichend Gehör, geschweige denn auch Geltung zu verschaffen. Wenn Barth in Amsterdam die Reformierten dazu er­mahnt, ihre Mittelposition ökumenisch zu nutzen, ging es ihm nicht um |42| Ausgewogenheit, wohl aber um das Eintreten für Wahrheitsmomente, die eben auch von dem linken Flügel zu vernehmen sind, der sich nicht so machtvoll in Szene setzen kann und will, wie es aufgrund des offenkun­dig unbefangenen und teilweise hemmungslos manifesten ekklesio­lo­gischen Selbstbewusstseins dem rechten Flügel möglich und sinnvoll erscheint. Die problematischen Seiten der selbstdarstellerischen Hoch­kirch­lichkeit halten sich ja keineswegs verborgen, aber sie werden mit einer gewissen Indolenz und einer frappanten Selbstverständlichkeit mehr oder weniger konsequent ausserhalb der Diskussion gehalten. So vor­sichtig und gerade nicht einseitig Barth seine Hoffnung für die Refor­mierten im Blick auf die Ökumene formuliert, so aktuell bleibt ihre impli­zite Kritik an der auch den reformierten Kirchen nicht fremden Neigung zur Selbstdarstellung. Dass Barth selbst eher in die Richtung des linken als in die des rechten Flügels tendierte, verschweigt er dabei keines­wegs.56 Zugleich ist erkennbar, dass sich Barth überaus wohlfühlt, in der Öku­mene als ein Reformierter auftreten zu können.57

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