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Toni Brinkmann

Bremen, Deutschland

Toni Brinkmann war die letzten sechseinhalb Jahre vor der Rente Referentin im niedersächsischen Frauenministerium mit verschiedenen Arbeitsgebieten. Vorher Jurastudium nach langer Familienphase; dann zunächst Mitarbeiterin an der Bremer und der Münchner Universität mit den Schwerpunkten Strafvollzug, Kriminologie, Jugendrecht und Kinderrechte.

Wie könnte eine linke feministische Bildungspolitik aussehen?

Es ist noch gar nicht so lange her, dass Feministinnen beklagten, Mädchen in den Schulen würden benachteiligt. Mädchen wurden weniger gefördert, machten seltener Abitur und studierten – wenn überhaupt – überwiegend »weiche« Fächer. Sie heiraten ja doch, hieß es. Inzwischen machen Mädchen durchschnittlich höhere und bessere Abschlüsse als Jungen – und schon wird der Ruf nach besonderer Förderung für Jungen laut. Würde es feministischen Ansprüchen genügen, den Vorsprung zu halten – oder sehen wir auch in diesem gesellschaftlichen Bereich die Notwendigkeit eines radikaleren linken feministischen Denkansatzes?

Ein Blick zurück

Schon 1874 schrieb Eduard Sack, ein engagierter Lehrer, in seinem Pamphlet »Unsere Schulen im Dienste gegen die Freiheit«:

Es ist geschichtlich festgestellt, was vorurtheilslos angesehen, auf der flachen Hand liegt, daß keine herrschende, auf irgend welche Vorrechte sich stützende Partei eine Bildung gutheißen und wollen kann, welche das eigene Denken zum Zweck hat, deren höchster Triumph die weiteste Entwicklung jener großen Fähigkeit ist, deren man zum selbständigen Urtheil und zum Handeln nach dem eigenen Willen bedarf. Niemals hat es eine Priesterschaft gegeben, niemals einen Adel, niemals ein Patrizierthum oder eine Bourgeoisie, niemals eine Gelehrtenkaste, niemals einen Fürsten, die eine solche Bildung gutgeheißen und gewollt hätten. (Sack 1878: 83)

In den 1960er Jahren entwickelte sich eine lebhafte Bildungsdiskussion. Vieles wurde geschrieben, nichts auf Dauer umgesetzt. Der Befreiungs-Pädagoge Paolo Freire bestätigte Sacks Erkenntnis:

Diejenigen, die die Macht in einer Gesellschaft innehaben, bestimmen die Zielsetzungen und Inhalte von Erziehung, und nicht die Philosophen. Darum kann man nicht die Erziehung gegen die Machthaber ausrichten. (Freire 1981: 110)

Seit mindestens 150 Jahren gehen in Deutschland praktisch alle Kinder viele Jahre lang zur Schule. Doch gibt es noch immer sogenannte bildungsferne Schichten, eine tiefe soziale Spaltung der Gesellschaft und rund 4 Mio. Analphabeten. Bis heute blieb trotz aller gegenteiligen Erfahrungen die Hoffnung auf soziale Gerechtigkeit durch staatliche Beschulung lebendig, insbesondere bei Linken.

Wie lange muss die Schule noch versagen, bis wir uns zu fragen beginnen, ob sie nicht entweder das falsche Mittel zur Erreichung sozialer Gerechtigkeit ist oder ganz andere Ziele verfolgt? Bis wir darauf zurückkommen, was Everett Reimer und Ivan Illich in den 1970er Jahren schrieben: dass die Schulpflicht hilft, den sozialen Frieden aufrechtzuerhalten; dass sie Aufstiegschancen suggeriert und dafür sorgt, dass diejenigen, die in der Schule (und folglich im Leben) nicht erfolgreich sind, sich selbst die Schuld dafür geben, weil sie versagt und ihre Chance nicht genutzt haben? Und begreifen, dass – wie Illich schreibt – die Schulen eine Milderung des subversiven Potenzials bewirken: »bleibt nämlich die Bildung auf Schulen beschränkt, so werden zu ihren höheren Stufen nur diejenigen zugelassen, die man auf den unteren Stufen zur Fügsamkeit erzogen hat« (Illich 1977: 30).

Zwar erhöhten sich in Deutschland seit der 1964 von Picht ausgerufenen Bildungskatastrophe die Abiturientenquoten auf über 30 %, aber die Schere zwischen Arm und Reich ist heute weiter geöffnet als damals. Nach wie vor spiegelt die Staatsschule die hierarchische Pyramide der Gesellschaft und lehrt implizit den »Wert« Hierarchie (Coleman, zit. n. Reimer 1972: 38, Anm. 4). Das Fortkommen der Einzelnen muss stets zu Lasten anderer gehen. Die Anzahl der Plätze in der Pyramidenspitze hängt ja nicht von der Anzahl und Qualität der Schulabschlüsse ab. Wenn alle Abitur machten, würden andere Hürden bzw. Auswahlkriterien erfunden. Schon heute sind ja viele Akademiker und gutausgebildete Menschen gezwungen, im Niedriglohnsektor zu arbeiten, »natürlich« überwiegend Frauen.

Linke propagieren eine immer frühere und intensivere Förderung in Institutionen. Doch die Menschen sind nicht arm, weil sie ungebildet sind, sondern sie bleiben (oft) ungebildet, weil sie arm sind. Wie Uri Bronfenbrenner halte ich es für

sehr wohl möglich, dass für Kinder, die in den elendesten Verhältnissen leben, die bei weitem wirksamste Technik, wesentliches und anhaltendes Wachstum sowohl der IQ-Werte, aber auch anderer, noch wichtigerer Bereiche der Entwicklung zu erreichen, darin besteht, dafür zu sorgen, dass die Familie ärztlich versorgt ist und ausreichende Ernährung hat, dass sie gut untergebracht ist und eine angemessene Arbeit hat (Bronfenbrenner 1982: 130).

Wäre, frage ich mich, die »Verblödung unserer Republik« (Thomas Wieczorek) oder »Meinungsmache« (Albrecht Müller) in diesem Ausmaß möglich, wenn wir nicht alle durch unser Schulsystem indoktriniert worden wären?

Schon Illich wunderte sich:

Dennoch ist es überraschend, wie schwer es dem schulgebildeten Geist fällt zu erkennen, wie unerbittlich Schulen ihre vermeintliche Notwendigkeit und damit zugleich die angebliche Unvermeidbarkeit des Systems eintrichtern, das sie unterstützen. Die Schulen lehren das Kind, das politische System zu akzeptieren, das sein Lehrer repräsentiert, obwohl behauptet wird, der Unterricht sei unpolitisch. (Illich 1972: 34)

Für mich ist danach klar: Von der Staatsschule können sich weder Feministinnen noch Sozialist/innen etwas erhoffen. Vielleicht wäre das anders, wenn wir die Herrschenden wären – doch dass wir es je werden, davor steht die Staatsschule, die die bestehenden Verhältnisse als »Natur« lehrt.

Was also dann?

Feministinnen sind gegen Unterdrückung und Hierarchie – wollen wir denn überhaupt den Aufstieg der einen um den Preis des Abstiegs der anderen oder nicht vielmehr eine möglichst egalitäre Gesellschaft, in der jede und jeder gleich wertgeschätzt wird und sich voll entfalten kann – voll, nicht nur in den staatlich verordneten Schulfächern? Nicht nur die Stellung der Frauen ist desto besser, je egalitärer eine Gesellschaft ist: Alle Bürger/innen – arme wie reiche – sind im Schnitt physisch und psychisch gesünder, glücklicher und engagierter (Wilkinson/Pickett 2009).

Feministinnen schätzen Vielfalt. Deshalb brauchen wir nicht Chancengleichheit, sondern Chancenvielfalt; nicht eine Messlatte für alle, sondern echte Bildung, die nicht messbar ist. Es geht uns nicht um Humanressourcen für die Wirtschaft, sondern um selbstbestimmte Menschen, die fähig sind, Kultur und Gesellschaft zu gestalten. Bildung muss wieder als Selbstzweck begriffen und von der Anhäufung vorgegebenen Wissens unterschieden werden. Nicht immer früheren Drill, sondern mehr Muße (schola bedeutete einst Muße) brauchen die Kinder – wie alle.

Feministinnen wollen eine demokratische Gesellschaft, und das bedeutet für uns, dass wir unsere Lebensumstände im Kleinen wie im Großen selbst gestalten. Um diese Erfahrung zu machen, müssen Kinder so früh wie möglich an dieser Gestaltung beteiligt sein. Das ist nur möglich in demokratischen Kindergärten und Schulen, in denen sie autonom bestimmen können, wann sie was auf welche Weise und mit wem tun und lernen, in denen sie sich ihre Regeln selbst geben und die nicht abgeschlossen vom Leben der Erwachsenen, sondern in ihr Lebensumfeld integriert sind.

Feministinnen wollen angesichts des Hungers in der Welt, des drohenden Klimawandels, der ökologischen und der kapitalistischen Krise kürzer arbeiten, weniger und sinnvoller produzieren und konsumieren, dafür mehr gestalten, mehr selbst tun, mehr Muße, mehr Leben ohne Entfremdung. Auf dem Wege dahin können Kinder sich ihren Platz in der Gesellschaft zurückerobern, wenn sie nicht in Institutionen weggesperrt werden.

Feministinnen könnten eine Lernkultur propagieren, wie sie im 19. Jahrhundert in den Arbeiterbildungsvereinen oder heute in demokratischen Schulen oder wo immer Menschen sich gleichberechtigt zusammentun, um zu lernen, gepflegt wurde und wird. Wir wollen die Gesellschaft wieder für die Lernenden – seien sie Kinder oder Erwachsene – öffnen.

In ein nicht-entfremdetes, egalitäres Leben passen selbstverwaltete, kleine Schulen in Nachbarschaften, die vom persönlichen Engagement aller Beteiligten getragen sind. In den Niederlanden sind 70 % der Schulen klein und privat, dabei voll vom Staat finanziert.

Im gelobten Finnland haben von den rund 3180 Gesamtschulen tausend weniger als 50 und ebenfalls tausend zwischen 100 und 300 Schüler/innen. Linke müssen lernen, zwischen Eliteschulen, die ohnehin nicht zu verhindern sind, und selbstorganisierten Nachbarschafts- oder Bürgerschulen zu unterscheiden. Die berechtigte Furcht vor Privatisierung à la Bertelsmann darf uns nicht in die Arme des Staates treiben, in dessen Bildungssystem Bertelsmann längst massiv mitmischt.

»An die Stelle der alten Bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«, schreibt Karl Marx. Daraus möchte ich machen: die freie Entwicklung einer und eines jeden »von Anfang an«.

Literatur

Bronfenbrenner, Uri (1982): Wie wirksam ist kompensatorische Erziehung, Frankfurt/M.

Freire, Paolo (1981): Der Lehrer ist Politiker und Künstler, Reinbek.

Illich, Ivan (1977): Schulen helfen nicht, 4. Aufl. Reinbek.

Reimer, Everett (1972): Schafft die Schule ab, Reinbek.

Sack, Eduard (1878): Unsere Schulen im Dienste gegen die Freiheit, 2. Aufl., Braunschweig.

Wilkinson, Richard, u. Kate Pickett (2009): Gleichheit ist Glück, Zweitausendeins.

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