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Christel Buchinger

Gries (Pfalz), Deutschland

Christel Buchinger, Diplom-Biologin, aktiv in der feministischen Bundesfrauenarbeitsgemeinschaft LISA der Partei DIE LINKE, in den Bereichen Feminismus und Mentoring tätig.

Veröffentlichung: Humankapital, ein Plädoyer für die ernsthafte ­Beschäftigung mit einem Phänomen, www.westpfalz-journal.de/Seiten/100politikallgemein­seiten/Buchinger/humankapital.htm.

Fragen an ein linkes feministisches Projekt

Feministinnen oder auch einfach Frauen, die heute in der alten BRD auf Gruppen-, Kreis- oder Landesebene der Partei DIE LINKE Politik machen wollen, sind überrascht über die überall anzutreffende Frauenfeindlichkeit, den offenen Sexismus und Antifeminismus.9 Die Erlebnisse, die wir einander berichten, gleichen sich. Wir erleben eine politische Kultur, die auf Großspurigkeit, Lautstärke und Aggressivität gründet, wir erleben persönliche Anmache, Beleidigungen und Versuche, uns lächerlich zu machen, wir erleben ständiges Übergangenwerden, Unterbrechungen unserer Rede, Abwertungen und das ganze Arsenal von Handlungen und Haltungen, die seit 100 Jahren von Feministinnen angeklagt werden. Die Angriffe sind umso dreister und aggressiver, je mehr es um die Themen Gleichberechtigung, Feminismus, Gender, Quote und allgemein »Frauen­themen« geht. Solche Verhaltensweisen gegenüber Menschen anderer Hautfarbe oder Türken würde sofort den Vorwurf des offenen Rassismus hervorrufen. Gegenüber Frauen ist das alles möglich und wird weithin auch von jenen geduldet, die nicht aktiv an diesem Klima mitwirken.

Nun finden Frauen für diese Verhaltensweisen vielfältige Erklärungen. Sie gelten als Charakterschwächen (»sind halt Machos«), als Ausdruck von Bildungslücken (»er hat es noch nicht verstanden«) und persönlichen Handicaps (»lernresistent« oder drastischer »zu blöd«). Gesehen wird auch, dass sich in einer Partei, in der Mann wegen der Quote an Frauen schlecht vorbeikommt, der Konkurrenzkampf mit all seinen männlichen Schönheiten auch gegen Frauen richtet und oft mit besonderer Wut, denn die Quote wird als Hindernis für das verdiente Fortkommen gesehen.10 Mit der Mutmaßung, solches Verhalten sei insofern interessengeleitet, kommen wir der Wahrheit aber schon nahe. Denn es handelt sich tatsächlich, das ist meine These, um ein Handeln und um Haltungen, die eigenen Gruppeninteressen dienen, wenn auch nicht (nur) denen um Fortkommen innerhalb der Linken.

Um dies zu erklären, muss ich etwas weiter ausholen. Eine verbreitete Erklärung für die Zerstörung des Sozialstaats ist die sogenannte »neoliberale Revolution«. Dabei wird unterstellt, der Sozialstaat hätte bis heute überlebt, wenn diese nicht stattgefunden hätte, man müsse also zur Rettung und Wiederherstellung des Sozialstaats nur die Neoliberalen zurückkämpfen. Dies ist der Gründungskonsens der Partei DIE LINKE. Die Krise des Sozialstaats ist aber nicht nur politischer Willkür gezollt, sondern eine objektive Entwicklung.

Aus den sozialen Kämpfen und Revolutionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind die Zwillingsbrüder Sozialismus und fordistischer Sozialstaat11 hervorgegangen – der eine als Ergebnis der russischen und folgenden Revolutionen, der andere als Versuch, Revolutionen zu verhindern. Mit dem fordistischen Wohlfahrtsstaat modernisierte sich der Kapitalismus selbst. Grundlage war ein recht lange tragfähiger Klassenkompromiss zwischen den stärksten Gruppen des Kapitals – Rüstungs-, Metall-, Fahrzeug-, Elektro-, Energie- und Chemieindustrie – und den dort beschäftigten (männlichen) Arbeitern. Dieser Klassenkompromiss wurde Grundlage der Sozialpolitik. An den Löhnen dieser Kerngruppe des Proletariats orientierten sich die Einkommen aller abhängig Beschäftigten – in der Regel mit Abschlägen.

Der Kompromiss war für beide Seiten vorteilhaft. Er versprach durch höhere Löhne, durch die Massenkaufkraft der schnell wachsenden Bevölkerung die Ausweitung der kapitalistischen Konsumgüterproduk­tion. Die Beschäftigten erlebten einen Wohlstand, wie ihn der konkurrierende Sozialismus zu bieten nicht in der Lage war. Der soziale Friede war gesichert. Der Lohn versprach, die Familie zu ernähren, und vergrößerte dadurch die Abhängigkeit vom sicheren Arbeitsplatz.

Die Familie, als Keimzelle des Staates definiert, war ausersehen, Diszi­plinierungs- und Bildungsaufgaben wahrzunehmen, flankiert durch Schule, Kirche und Militär sowie Vereine und Wohlfahrtsorganisationen. Die Familienarbeit wurde den Frauen zugewiesen. Das fordistische Familienmodell sah jene strikte Trennung der Geschlechterrollen vor, wie sie im Westen Deutschlands dem Idealbild der kleinbürgerlichen Kleinfamilie der fünfziger Jahre entsprach. Da die Familienväter die einzige ökonomische Stütze der Familie waren, war die Sicherung der Vollbeschäftigung, der Vollerwerbstätigkeit und der möglichst ununterbrochenen Erwerbsbiografien notwendig. Frauen verdienten allenfalls hinzu, ihre Löhne waren deutlich geringer, die Sicherheit ihrer Arbeitsplätze und ihre Ausbildung nachrangig, ihre Vollbeschäftigung unerwünscht. Sie übernahmen die Rolle der industriellen Reservearmee nahezu alleine.

Was wir heute an Abbau sozialer Dienste und Sicherheiten erleben, ist die Demontage, die Zerstörung dieses fordistischen Wohlfahrtsstaates, ist die Aufkündigung des Klassenkompromisses durch die Kapitalseite. Die Gründe dafür sind vielfältig. Die vielleicht wichtigsten:

1. Als Gegenkonzept zum Sozialismus wird der Wohlfahrtsstaat nicht mehr gebraucht. Die entfesselten Finanzmärkte gieren nach Geld, das dem Sozial- oder Wohlfahrtsstaat entzogen wird. Der Wohlfahrtsstaat muss ausgenommen werden, weil in ihm viel Geld gebunden ist, Geld, das auf den Finanzmärkten Zinsen und Zinseszinsen verspricht. Das ist der Hintergrund der Privatisierung von Altersversorgung, Gesundheitswesen, öffentlichem Wohnungseigentum, Bildung, Wasser, Bahn, Post, Telekommunikation, Strom, Gas etc. Die viel diskutierte Umverteilung von unten nach oben hat nur einen Zweck: die oben mit frischem Geld zu versorgen.

2. Aber es gibt auch eine Krise des Sozialstaats. Er erodiert von innen. Die Automation und die Informations- und Kommunikationstechnologien haben menschliche Produktionsarbeit in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern in nie da gewesenem Umfang unnötig gemacht. Weil es dem Kapitalismus nicht gelingen kann und er kein Interesse daran hat, die verbleibende Arbeit gleichmäßig zu verteilen, wurde die Massenarbeitslosigkeit ein unlösbares Problem.

3. Die Zahl der Träger des Klassenkompromisses auf Seiten der Arbeit und damit ihr politisches Gewicht in Gestalt der Gewerkschaften sinkt durch die galoppierende Rationalisierung. Die soziale Basis schrumpft. Dies wird dadurch verstärkt, dass sich die Tätigkeiten der Menschen aus der unmittelbaren Produktion in die Bereiche der Entwicklung und Steuerung, hin zum Überwachen, Vorbereiten, Planen, Verkaufen, Transportieren … verlagern, in sogenannte Dienstleistungstätigkeiten. Viele dieser produktionsnahen Dienstleistungen werden »outgesourct«.

4. Des Weiteren empfanden Emanzipationsbestrebungen vor allem von Frauen, aber auch von Jugendlichen, Homosexuellen und Transidenten den fordistischen Wohlfahrtsstaat als Gefängnis und setzten die Überwindung der Unterordnung und der Rollenzuweisungen auf die Tagesordnung. Frauen sind massenhaft auf den Arbeitsmarkt gedrängt. Der gegenwärtige Demografieknick, über den so ausgiebig gejammert wird, ist Ausdruck der Krise des fordistischen Systems, der Überlebtheit der Ernährerfamilie.

5. Die chronische Unterbezahlung der weiblichen Erwerbsarbeit war zwar immer Grund für linke Kritik, aber Linke und Gewerkschaften haben nie Strategien und Kampfkraft für ihre Überwindung entwickelt. So weckt sie neoliberale Begehrlichkeiten. Denn Frauen bringen nicht nur neue und interessante Kompetenzen und Persönlichkeitsmerkmale mit auf den Arbeitsmarkt, sondern auch den Gender-Lohnabschlag.

6. Und zuletzt wird die Endlichkeit der Ressourcen und die Energieknappheit das zentrale Moment des Fordismus, den Massenkonsum, in Frage stellen. Der Linken insgesamt fehlt diese Analyse, sie nimmt sie nicht zur Kenntnis, sie ignoriert sie. Und das ist kein Zufall. Wichtige soziale Basis der neuen Partei DIE LINKE (nicht unbedingt der alten PDS), eingebracht vor allem durch die WASG, sind gerade die Träger des fordistischen Klassenkompromisses auf der Seite der Arbeit. Sie hatten Vorteile nicht nur durch ihre höheren Löhne, sondern auch durch die Bequemlichkeiten einer Versorgerehe, die die finanzielle Versorgung zwar ihnen auferlegte, die praktische aber ihren Ehefrauen. Ihr Teil war die finanzielle Unabhängigkeit, der ihrer Frauen die Abhängigkeit. Ihnen wurde eine Machtposition in der Familie zuteil, Grundlage für jene Verachtung, die einige den Frauen entgegenbringen. Sie hatten Freiraum für Engagement in der Gesellschaft, der Politik, dem Verein, denn sie waren von Familienpflichten weitgehend freigestellt. All diese Vorteile wollen sie keinesfalls aufgeben, all diese Vorteile verteidigen sie auch mit ihrem Kampf gegen die Rente mit 67, der sich um Altersarmut von Frauen ja gar nicht kümmert. Jener westdeutsche Aufstand, der sich in der WASG-Gründung manifestierte, fußte auf einem Verarmungsschub der männlichen Arbeiter. Arme Frauen, arme Mütter, arme Witwen haben jahrzehntelang nicht ausgereicht. Erst der in die Hartz-IV-Armut abrutschende, 30 Jahre lang malochende Arbeiter machte ein Gerechtigkeitsproblem sichtbar, nicht die sich zwischen Arbeit, Kindererziehung und Geldmangel aufreibende, schon immer arme alleinerziehende Frau.

Das Festhalten der Partei DIE LINKE an der Verteidigung des fordistischen Klassenkompromisses, das Festhalten an der Nicht-Analyse, die Verweigerung einer Strategie, die sowohl den Neoliberalismus als auch den alten Wohlfahrtsstaat überwindet, bietet jenen Kräften eine Basis, die in den Gruppen, im Kreisverband und im Land ihren alten »Herr-im-Hause-Standpunkt« vertreten, den ihnen der alte Wohlfahrtsstaat zubilligte. Dieser »Herr-im-Hause-Standpunkt« gebiert immer wieder neu antiemanzipatorische Positionen und Verhaltensweisen. Er ist Emanzipation insgesamt abgeneigt. Er ist der Schöpfer aller autoritären Wege der Arbeiterbewegung seit ihrem Bestehen.12

Das Festhalten am fordistischen Klassenkompromiss, den die Kapitalseite längst aufgekündigt hat und den auch die eigene Ehefrau kritisiert, erklärt auch die Gleichgültigkeit gegenüber den schlechten Ergebnissen der Partei DIE LINKE bei den Wählerinnen. Es erklärt, warum bei allen Programmentwürfen mit Mühe und Not noch die feministische Petersilie untergebracht werden kann, aber eine durchgehende Berücksichtigung der Geschlechterverhältnisse in der Programmatik nicht nur nicht verstanden, sondern eben auch abgelehnt wird. Es erklärt, warum das Erziehungsgehalt, das Christa Müller in die Diskussion brachte, als sozialer Fortschritt gesehen werden kann, aber der emanzipatorische Rückschritt nicht. Es erklärt, warum dies auch von Oskar Lafontaine so gesehen wird. Sein Populismus ist Interessenvertretung. Insofern haben wir es mit einer Linken zu tun, die, wenn sie nicht lernt, feministisch zu werden, nicht links wird.

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