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Briefe aus der Ferne. Eine internationale Umfrage

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Es geht im folgenden Buch um 47 Texte aus 13 Ländern auf sechs Erdteilen, sehr unterschiedlich in Umfang und Detailliertheit, von feministischen Wissenschaftlerinnen und Aktivistinnen, die sich politisch ­äußern. Alle hatten die Frage, wie sie sich ein linkes feministisches Projekt heute vorstellen, und eine Kurzfassung des Projekts der Vier-in-einem-Perspektive bekommen. Alle Briefe beziehen sich auf ein ebenso mögliches wie notwendiges linkes Projekt heute: So sprechen sie, verteilt über den Globus, von einem gemeinsamen Fluchtpunkt. Sie sind sich aus der Ferne nah, wie wir uns aus der Nähe fern. Dies ist zugleich das Eigentümliche und Optimistische an den Nachrichten von überall, dass es dieses kollektive feministische Projekt international schon gibt. Es muss sich nur weiter selbst finden.7

Das vorliegende Buch ist erst ein Anfang. Das Projekt hat kein Ende: Die meisten Autorinnen arbeiten weiter und schicken weitere Texte.8 Erste Lehren aus der Umfrage sind:

In der globalisierten Welt müssen die Fragen auch vor dem Hintergrund der transnationalen Kapitale gestellt werden, die wiederum die Frauenschicksale in aller Welt mit sich reißen, so wie eben jetzt in der Weltwirtschaftskrise. Sozialismus (fast alle in der Umfrage sprechen von Sozialismus) ist als besseres Leben zu begreifen. Politik ist auf verschiedenen Ebenen anzupacken – von unten als ›Graswurzel-Politik‹ und feministisch-sozialistisch zugleich. Der Kampf um den Wohlfahrtsstaat muss als Kampf gegen seinen Abbau in den westlichen kapitalistischen Ländern zugleich mit dem Kampf für seinen Aufbau in den Dritt-Welt-Ländern verknüpft werden.

Gegen sexistische Gewalt ist bis in die Kommunikationsstrukturen hinein zu streiten – dafür müssen wir eine Sprache finden, die uns für den Umbau fehlt. Die Gewalt besteht in jedem Land der Welt fort und nimmt viele Formen an, von Vergewaltigung als Waffe im Krieg über häuslichen Missbrauch bis zum Ausschluss von Frauen und Mädchen von Gesundheitsfürsorge, Wahlfreiheit, Bildung und öffentlichem ­Leben, ein Ausschluss, der ihre Chancen weiter beschränkt und ihnen die Möglichkeit nimmt, ihre Rechte einzufordern.

Die außergewöhnlich große Rolle, die der gesamte Reproduktionssektor für die Erhaltung des Systems, für die Art der Erwerbsarbeit, für die Lebensweise spielt, gilt es zu erforschen und zu begreifen. Dies umfasst den Umgang mit Natur und verbietet eine Beschränkung auf den bloß gewerkschaftlichen Kampf, bzw. fordert seine Politisierung und Erweiterung. Wir streiten für eine Welt, in der Individuen beiderlei Geschlechts aufrecht leben können. Daher ist die Frage der Familienpolitik zentral für ein linkes Projekt. In ihr stellt sich die Hegemoniefrage. Es ist die Masse der Frauen betroffen. Gegen die konservative Rechte ist zu streiten, die sich Familienpolitik auf Kosten von Frauen und Familien zunutze macht. Es muss für die Erkenntnis gearbeitet werden, dass Umwelt- und andere soziale Probleme – etwa der Ausbau des Militärs – auch Familienprobleme sind. Wir wollen zur Frage ermutigen, welche Art von Welt wir für unsere Kinder wollen, und wir wollen zum Kampf für diese Welt antreten.

Wichtige Dimensionen und Kämpfe gelten der Frage von Selbstveränderung, der Wiederentdeckung des eignen Standpunktes und der Herstellung einer ›Politik des Wir‹, also kollektiver Handlungsfähigkeit. Gegen die neoliberale Vereinzelung brauchen wir bewusste Zusammenschlüsse. Gegen die Gefangennahme der Begriffe in die neoliberale Agenda wollen wir auch Sprachpolitik entwickeln. Aus den täglichen Grenzüberschreitungen können wir alternative Erfahrungen schöpfen.

Ein Hauptergebnis aus dieser internationalen Umfrage ist auch eine Lehre und ein Wegweiser: Ein möglicher Einschluss feministischer ­Dimensionen in ein linkes Programm wird weltweit als aufregend diskutiert. Diese Diskussion ist daher für sich selbst schon ein Politikum. Sie verändert das Klima um die Partei, gibt Feministinnen Auftrieb. Dass die Diskussion nicht abgeschlossen ist, dass keine Rezepte herauskommen, kann uns nicht entmutigen, sondern an die Arbeit setzen. Wie zum Beispiel nimmt man die notwendige Globalität eines aktuellen Feminismus in ein Programm? Oder die Notwendigkeit, gegen Gewalt und gegen alltäglichen Sexismus einzuschreiten? Wir brauchen eine Diskussionskultur, die es erlaubt, alle Fragen öffentlich zu erarbeiten und im internationalen Rahmen weiter zu bewegen. Dies ist selbst das Politische, das wir feministisch ins Programm bringen. Wir wollen nicht fertige Antworten auf einzelne nationale Punkte. Wir lernen aus dem Internationalismus der Arbeiterbewegung, der selbst eine große Kraft ist. Dies ist das Format, das wir anzielen. Es braucht Strukturen, in denen diese Diskussionen geführt werden können, Räume. Linker Feminismus ist ein Projekt, das von uns stets neu lebendig geschaffen wird, wozu wir beweglich dialektisch denken lernen müssen, alles stets in Veränderung begreifen und gerade dadurch handlungsfähiger werden.

Frigga Haug, Los Quemados, 1. September 2010

Briefe aus der Ferne

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