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Einleitung Gespräch mit Lenin

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Warum sollte man ein Buch mit internationalen Stimmen zu einem aktuellen linken feministischen Projekt ausgerechnet mit Lenin beginnen? Soweit man heute überhaupt noch von ihm weiß, so, dass er mit Gewalt und Terror zusammenzudenken ist. Man mag sich noch an seine umstürzende Rolle in der russischen Revolution erinnern, aber auch da wohl kaum an eine besondere Verbindung zur Frauenfrage. Lenin soll zwar gesagt haben, die »Köchin soll den Staat regieren«1, aber genügt dies, dass wir unser Buch über den internationalen politischen Feminismus mit Gedanken über ihn eröffnen?

Zunächst faszinierte mich der Titel »Briefe aus der Ferne«, wie einige seiner Texte zusammenfassend heißen. Ich wollte ihn unbedingt für unser internationales Projekt übernehmen, um so auch den Briefcharakter, den die Texte zumeist haben, hervorzuheben und das Echo einer unklaren Sehnsucht anklingen zu lassen. Da dies aber von Lenin entwendet war, musste ich es extra begründen und machte mich also daran, seine Briefe zu lesen, immer auch mit der Möglichkeit, von meinem Vorhaben abzulassen. Hier aber fand ich Unerwartetes, das die Titelwahl ganz anders fundiert und unsere fertigen Vorurteile herausfordert.

»Wunder gibt es weder in der Natur noch in der Geschichte, aber jede schroffe Wendung der Geschichte, darunter auch jede Revolution, offenbart einen solchen Reichtum an Inhalt, entfaltet so unerwartet eigenartige Kombinationen der Kampfformen und der Kräfteverhältnisse der Kämpfenden, dass dem spießbürgerlichen Verstand vieles als Wunder erscheinen muss.« (7) So schrieb Lenin im März 1917 aus dem Schweizer Exil in ein Russland, in dem soeben eine Revolution ausgebrochen war. Er durchforschte fieberhaft die internationalen Zeitungen, suchte nach Nachrichten über die Vorgänge in Russland, entwarf Ratschläge, ja Anweisungen, die er Briefe aus der Ferne nannte2. Sie mussten »diese verfluchte Ferne« (35) überbrücken, in der er nicht vor Ort der Geschehnisse sein konnte.

Wiewohl unsere Briefe aus der Ferne weder in einer revolutionären Situation geschrieben sind, noch die Schreibenden unbedingt vor Ort sein wollen, geht es auch in unserem Projekt um Ratschläge, diesmal für die Neuaufnahme des feministischen Projekts in Deutschland in einer Gestalt, die allgemein politisch eingreifen will. Dafür sucht es internatio­nalen Rückhalt. Aus je anderer Lage schreiben Frauen aus vielen Teilen der Welt, wie von ihrem Standpunkt betrachtet diese Neuaufnahme heute aussehen müsste. Dass sie sich aufgerufen fühlen und Antwort geben, ist in hohem Maße erstaunlich. Zeugt es doch von ­einem feministischen Internationalismus, wie er seit Abklingen der zweiten Frauen­bewegung kaum mehr möglich schien.

Jetzt zur Lenin-Lektüre: Er hat in seinen drei Briefen immer wieder darauf bestanden, dass alle, Frauen und Männer gleichermaßen und »gleichberechtigt«, in den Prozess der Übernahme der Aufgaben des Staates einzubeziehen seien. »Denn ohne die Frauen zum öffentlichen Dienst, zur Miliz, zum politischen Leben heranzuziehen, ohne die ­Frauen aus ihrer abstumpfenden Haus- und Küchenatmosphäre herauszureißen, kann keine wirkliche Freiheit gewährleistet werden, kann nicht einmal die Demokratie, vom Sozialismus ganz zu schweigen, aufgebaut werden.« (43)

Die Sätze verblüffen auf mehrfache Weise. Man erwartet revolutionäre Radikalität und erfährt sie auf der Seite einer neuen Geschlechter­gerechtigkeit und wundert sich, dass zu so was Kraft und Zeit war, ja dass es zu den dringlichen existenziellen Aufgaben einer neuen Gesellschaft gehören sollte.

Springen wir in die Gegenwart und sehen, dass nicht nur die sozialistische Planwirtschaft, ein Ergebnis der Revolution von 1917, die im März ihre erste Etappe durchschritt, scheiterte, sondern von einem feministischen Standpunkt auch, dass die Einbeziehung des weiblichen Geschlechts als Menschen auf allen Ebenen von Staat und Wirtschaft immer noch ungewisse Zukunft ist.

Tenor der drei Lenin-Briefe ist, die Trennung von Politik und Ökonomie aufzuheben. Als Politik zu begreifen, sich für die Wirtschaft verantwortlich zu fühlen und so zu handeln und vor allem, dies beim Machen zu lernen. Lenin ist in dieser Hinsicht offenbar ein Anhänger des Learning by doing. Demokratie ist für ihn »eine wirkliche Erziehung der Massen zur Teilnahme an allen Staatsgeschäften« (43). Dafür entwirft er ein Modell, das mit dem »demokratischen Instinkt jedes Arbeiters, jedes Bauern, jedes werktätigen und ausgebeuteten Menschen« (41) rechnet: Wenn ein jeder und eine jede zwei Tage im Monat sich der politischen Arbeit widmen würde, müsste dies als normaler Arbeitstag mit entsprechendem »üblichen Lohn« gelten. Die unmittelbare Folge wäre ein riesiges Heer an politisch Verantwortlichen.

Rosa Luxemburg, die von der russischen Revolution im Oktober 1917 begeistert war und ebenso aufgeregt im Exil des Gefängnisses die Nachrichten verfolgte wie Lenin die erste Etappe im März in Zürich, kritisiert in der Folge aufs Heftigste, dass eben die Vorschläge aus dem dritten der drei Briefe, die Einbeziehung der Massen beim Aufbau des Sozialismus, nicht befolgt wurden. Sie wendet sich gegen die Zentralisierung der Regierung anstelle der vielfältigen Einmischung des Volkes und vor allem gegen die Abschaffung gerade derjenigen Formen aus der bürgerlichen Gesellschaft, die zu den Kampfbedingungen gehört hatten:

Lenin und Trotzki haben anstelle der aus allgemeinen Volkswahlen hervorgegangenen Vertretungskörperschaften die Sowjets als die einzige wahre Vertretung der arbeitenden Massen hingestellt. Aber mit dem Erdrücken des politischen Lebens im ganzen Lande muss auch das Leben in den Sowjets immer mehr erlahmen. Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. (GW 4, 362)

Wir wissen, dass die Pläne Lenins vom Frühjahr 1917 niemals Wirklichkeit wurden. Aber die Spaltung in Sozialismus ohne Demokratie und Demokratie ohne Sozialismus hat beide beschädigt, den Sozialismus im Osten ebenso wie die Demokratie im Westen. Und in jedem Fall bleibt die Beteiligung der Frauen ein ebenso unerledigtes Projekt wie der Sozialismus überhaupt.

So energisch sich der Kapitalismus gegen Revolution und mit Reform durchsetzte, so sehr sind seine Grundlagen in den zwei Jahren der Weltwirtschaftskrise am Ende des ersten Jahrzehnts des dritten Jahrtausends erschüttert. Wieder einmal erscheinen die Frauenfragen gemessen an der Ungeheuerlichkeit von weltweiter Armut, von Hunger, Arbeitslosigkeit, Klimakatastrophe und Krieg als zweitrangig und später anzugehen. Die Krise des Kapitalismus trifft auf eine Linke, die lange schon nicht mehr an die Möglichkeit dachte, dass die marxschen Analysen zum Kapitalismus zutreffend seien und also eine alternative Gesellschaft auf der Tagesordnung stehe. Zersplittert, miteinander verfeindet, aufgerieben und mutlos geworden, sammeln sich dennoch spät jetzt allenthalben Gegenkräfte. Was aber tun die Frauen? Eher noch effektiver als die Arbeiterklasse sind Feministinnen delegitimiert. Sie selbst haben sich den entscheidenden Tritt versetzt, politisch korrekt zunächst sich als Frauen, dann überhaupt, indem sie jedes kollektive Subjekt aus der Geschichte zu streichen empfahlen. »Feminismus ist tot«, war zwar der triumphale Schlussstrich unter eine große internationale Bewegung von rechts und aus dem Mainstream, er traf zugleich auf einen Feminismus, der sich längst aufgegeben hatte.3

Ziehen wir noch ein letztes Mal die leninschen Briefe zu Rate. Bei der Analyse der vielfältig überdeterminierten Situation, in der die »­erste Etappe« der Revolution in Russland wirklich wurde, schärft er wiederholt ein, dass es wesentlich sei, »alle politischen Richtungen und Aktions­methoden« (9) zu studieren; benennt den Betrug und die Entzweiung der Arbeiter, den Hunger und schärft ein, zu erkennen, dass sich völlig verschiedene Ströme, »völlig ungleichartige Klasseninteressen, völlig entgegengesetzte politische und soziale Bestrebungen vereinigten« (13). Jetzt gelte es, klare, von allen verstandene und gewollte einfache Losungen zu finden, die nicht von oben, von außen vorzustellen seien, sondern aus dem vielfältigen Begehren der Unterdrückten kamen: Frieden, Brot und Freiheit.

Briefe aus der Ferne

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