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2 Die ersten Begegnungen in der Psychotherapie Kerstin Neuthe
ОглавлениеEine junge Patientin sprach erstmals über dramatische Erinnerungen und wollte sich ihrer endlich entledigen, indem sie versuchte, alles zu erzählen und sich nicht mehr stoppen konnte. – Eine Frau hielt ihrem stattlichen Mann im Wartezimmer die Hand mit den Worten »Damit er auch wirklich mit reingeht« und er stand zögernd auf. – Eine ältere Patientin gab mir gleich nach der Begrüßung ihren Klinikbericht in die Hand.
Aus diesen einzelnen Szenen meiner ambulanten psychotherapeutischen Praxis lässt sich erahnen, wie lebendig die Begegnung zwischen Patient*in und Therapeut*in in den ersten Psychotherapiestunden sein kann. Die ersten Kontakte in der Psychotherapie sind außergewöhnlich und intensiv: Zwei Unbekannte treffen aufeinander und eine*r spricht über sich.
Für Psychotherapeut*innen hingegen nimmt mit jeder der vielen ersten Begegnungen die Erfahrung zu und es sinkt die Unsicherheit gegenüber dieser besonderen menschlichen Situation. Über die Berufsjahre hinweg ertappe ich mich immer wieder dabei, die Brisanz – vor allem der allerersten Begegnung – für die Patient*innen zu unterschätzen.
Doch was genau passiert in den ersten Begegnungen in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie? Was gibt den Anstoß für einen inneren Entwicklungsprozess und lässt unsere Patient*innen irgendwann sagen: »Dieses Gefühl quält mich nicht mehr.« »Jetzt verstehe ich, was ich da tue.« »Die Therapie ist wie eine zweite Geburt.«
Es ist schwierig, in Worte zu fassen, was genau heilsam ist. Heilsam ist nicht allein die Intervention – Heilung oder Entwicklung hängt vorrangig mit der therapeutischen Beziehung zusammen, dem wichtigsten Wirkfaktor der Psychotherapie. Wie Forschungsergebnisse belegen und in diversen Psychotherapielehrbüchern (Boessmann & Remmers, 2018; Körner, 2018) herausgearbeitet ist, hat die Qualität der Therapiebeziehung – aus Patient*innensicht – den höchsten Einfluss auf das Ergebnis der Behandlung. Die hilfreiche therapeutische Beziehung ist wie ein unsichtbares Fundament, es wird in den ersten Begegnungen gelegt und trägt über die gesamte Zeit der Behandlung.
In den folgenden Ausführungen verdeutliche ich die Bedeutung der ersten psychotherapeutischen Begegnungen und beschreibe weniger theoretische Inhalte, sondern mehr den praktischen Umgang.
Anfangs spanne ich den therapeutischen Beziehungsraum auf, veranschauliche den auftauchenden Konflikt zwischen Versuchung und Versagung und die besondere therapeutische Haltung. Im Mittelteil charakterisiere ich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – wesentliche Bestandteile der ersten Begegnungen, die einen Zugang zur unbewussten Psychodynamik begünstigen: das Verstehen von Szenen, von Übertragungs- und Gegenübertragungsdynamiken sowie die Anwendung der Probetherapie. Schließlich geht es im letzten Teil um das Zeichnen eines Bildes.