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2.2 Zugänge zur unbewussten Psychodynamik 2.2.1 Das Szenische Verstehen und das Vorfeld-Phänomen

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Hermann Argelander übernahm erstmals das Konzept des szenischen Verstehens für seine Erstinterviews (Argelander, 2014). Als Kind gehörloser Eltern war er früh auf visuelle Informationen angewiesen. Er schien erkannt zu haben, dass viele Einsichten allein durch die visuell erlebbare Szene erzielt werden können. Laut Argelander gibt es neben objektiven Informationen (die nachprüfbaren Fakten) und subjektiven Informationen (die Bedeutung der Fakten aus Patient*innensicht) noch die entscheidenden szenischen Informationen, d. h. das Erlebnis der Situation. Vor allem die szenischen Informationen geben wichtige Hinweise und eine Zentrierung zum Verstehen der zu Behandelnden.

Der Objektbeziehungstheorie zufolge bilden sich die in der Kindheit erworbenen Vorstellungen eines Kindes über sich und seine primären Bezugspersonen dauerhaft innerpsychisch ab. Diese Vorstellungen werden dann unbewusst immer wieder in den unterschiedlichen Beziehungen, also auch im therapeutischen Beziehungsraum, reinszeniert. Der*Die Patient*in formt demnach unbewusst den Kontakt zum*zur Therapeut*in entsprechend seiner*ihrer inneren Vorstellungen von Beziehungen. Dieses innere Bild des Kindes über sich und seine Bezugspersonen prägen nicht nur lebenslange Beziehungsdynamiken, sondern auch mögliche darin verwobene Psychopathologien.

Darüber hinaus scheint es einen unbewussten Antrieb zu geben, speziell die unverarbeiteten konflikthaften Beziehungserfahrungen in den aktuellen äußeren Beziehungen abzubilden. Mit anderen Worten, Patient*innen »infizieren« die therapeutische Beziehung mit ihrer psychischen Problematik. Das verwenden Psychotherapeut*innen zur Erforschung: Sie lassen die entstehende Handlung in dem Beziehungsraum zwischen Hilfesuchendem*r und Therapeut*in sich entfalten und bedeutsame Szenen der therapeutischen Begegnung können konzentriert – wie ein Tropfen Blut unter dem Mikroskop – untersucht werden.

Hierzu zwei Szenen aus ersten Begegnungen im Eingangsbereich meiner Praxis:

Ein Patient zögerte, in die Nähe des Therapieraums zu kommen und wartete auf mein Hereinbitten. – Eine Patientin wartete nicht auf das Begrüßungsritual, sondern ging vor mir in den Therapieraum hinein und setzte sich in einen Sessel. – Diese Szenen ließ ich über einige Therapiestunden sich entfalten und in mir wirken. Im Gleichgewicht zwischen der Anwesenheit als erlebende und auch als denkende Therapeutin (Zwiebel, 2013) reflektierte ich immer wieder die in diesen Szenen aktualisierte, konflikthafte Objektbeziehung. Beide Personen stellten in diesen Szenen ihrem Gegenüber die Frage des Willkommen-Seins: der Patient aus einer passiven Position heraus und die Patientin aus einer aktiven.

Besonders konzentrierte szenische Informationen enthält das Vorfeld. Das Vorfeld-Phänomen (Argelander, 2014) ist noch vor dem ersten direkten Kontakt, nämlich bei der Kontaktanbahnung, zu finden. Die Kontaktaufnahme erfolgt in meiner Praxis oft über das Telefon. Beim ersten Anruf achte ich aufmerksam auf die sich ausbreitende Szene. In den wenigen Informationen ist die aktuelle zentrale Psychodynamik häufig bereits zu erkennen:

Ein Patient bat mich im ersten kurzen Telefonat um eine ausführliche Anleitung, wie er denn in meine Praxis gelange. Ich beschrieb ihm detailliert den Weg. Hier stellte ich die Hypothese auf, dass er zögert, sich auf Beziehungen einzulassen und eine Vorleistung seines Gegenübers benötigt. Dieses Thema zog sich wie ein roter Faden durch die Behandlung; durch das Bewusstmachen in der therapeutischen Beziehung sah er sein Beziehungsmuster und wir konnten seine damit verbundenen unbewussten Ängste vor Beschämung immer wieder durcharbeiten. Dieses Beziehungsmuster trug entscheidend zur Aufrechterhaltung der depressiven Symptomatik bei. Später wagte er, sich ohne vorherige Absicherung emotional zu öffnen – erst in der Therapiebeziehung und dann gegenüber den Menschen seines Umfelds.

Nach dem alten psychoanalytischen Lehrsatz »Unbewusstes erkennt Unbewusstes irrtumslos« sehen wir im direkten Kontakt im therapeutischen Beziehungsraum mehr, als wir zunächst bewusst erfassen und ausdrücken können. Genauso wie psychodynamische Behandler*innen anhand der Szene versuchen, die unbewusste Bedeutung der entstehenden Handlung zu erschließen, versuchen sie beim Verstehen der Übertragungs- und Gegenübertragungsdynamik die unbewusste Bedeutung der entstehenden inneren Prozesse (wie Emotionen oder Erinnerungen) zu erschließen.

Facetten tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie

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