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1 Zwischen Unsicherheit und Verstehen Julia Hristov 1.1 Die ersten Schritte
ОглавлениеIn meiner ersten Therapiestunde war ich mindestens so angespannt und nervös wie mein Patient, wahrscheinlich sogar noch mehr. Bei meinem Gegenüber handelte es sich um einen großen, kräftigen 16-jährigen, gleichgültig und abgebrüht wirkenden Jugendlichen, der mich kritisch und erwartungsvoll musterte. Er hatte einen Schulverweis bekommen, war wegen kleinerer Einbrüche und Schlägereien polizeibekannt. Die Eltern beschrieben ihn in einem gemeinsamen Aufnahmegespräch als aufbrausend und grenzüberschreitend, aber phasenweise auch antriebsarm und bedrückt.
Seinen Blick auf mir spürend, überlegte ich, ob ich autoritär genug wirkte, er mir zuhören würde, wie ich mich ihm entgegenstellen könnte. Trotz vieler besuchter Psychologie- und Therapieseminare und eines großen Stapels studierter Fachliteratur, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als ein Manual, auf das ich mich hätte beziehen können, eines, in welchem ich schrittweise Handlungsvorgaben vorfinden würde. Obwohl ich hartnäckig versuchte, seinen Panzer zu durchbrechen, machte der Jugendliche es mir nicht leicht, mit ihm ins Gespräch zu kommen und mehr über ihn zu erfahren. Und dennoch: Er blieb 50 Minuten lang und erschien auch zu den weiteren Terminen.
Im Nachhinein ist mir bewusst, wie eindrücklich und aussagekräftig die erste Begegnung mit meinem Patienten war – wie viel sie über den Patienten, unsere Beziehung und auch über mich aussagt. Sie führt mir meine eigene Unsicherheit als angehende Therapeutin vor Augen. Sie lässt mich den unausgesprochenen Erwartungsdruck des Patienten spüren, der mich musterte, als wollte er herausfinden, was ich ihm als Therapeutin bieten konnte. Der erste Termin zeigt mir auch, dass der Patient einen hohen Leidensdruck hatte, Hilfe suchte und auf seine Art sehr wohl in Beziehung ging. Wie leicht hätte er aufstehen, das Gespräch vorzeitig beenden und gehen können. Selbst wenn ich gewollt hätte, ich hätte ihn nicht aufhalten können. Am stärksten haben mich aber sein Auftreten und seine einschüchternde Ausstrahlung beschäftigt, was diese bei mir ausgelöst hatte und wohl auch bei anderen auslösen würde.
Ein wichtiger Aspekt, der das tiefenpsychologische Arbeiten für mich auszeichnet und spannend macht, ist es, das Augenmerk darauf zu haben, was sich weit über das Gesagte hinaus zwischen Patient*in und Therapeut*in abspielt. Lorenzer führte hierfür das Konzept des Szenischen Verstehens ein (Lorenzer, 2006). Dabei beschreibt der Psychoanalytiker und Soziologe vier Ebenen des Verstehens in Interaktionen. Zum einen ein logisches Verstehen, das sich auf den Inhalt des Gesprochenen bezieht, die Informationen, die sich daraus ergeben. Des Weiteren ein psychologisches Verstehen, das der Beziehung der Interaktionspartner*innen einen emotionalen Wert verleiht. Das szenische Verstehen erfasst die Situation im Gesamten mit allen Umgebungsbedingungen und Äußerungen über das Gesagte hinaus. Das tiefenhermeneutische Verstehen schließlich liefert über die dargebotene Szene einen Zugang zu verborgenen Wünschen und Abwehrmechanismen. In Bezug auf die Therapiesituation lässt sich festhalten, dass vieles, das sprachlich nicht ausgedrückt werden kann, dennoch Eingang in die Interaktion zwischen Therapeut*in und Patient*in findet. Dies geschieht in der Form, dass verdrängte Erlebnisse und Erfahrungen der Patient*innen in der therapeutischen Beziehung ausagiert werden, ein Gegenüber in die Inszenierung eingebunden und ihm eine Rolle zugewiesen wird. Ein Verstehen dieser Dynamik kann dysfunktionale Beziehungsmuster der Patient*innen aufzeigen und diese erlebbar sowie korrigierbar machen.
Rückblickend erscheint es mir noch verständlicher, dass eine Therapieform, die den Einfluss von zwischenmenschlicher Beziehung so stark betont, nicht alleine durch Fachliteratur und Seminare verstanden werden kann, sondern in der Beziehung zu einem Gegenüber erlebt werden muss. Wenn uns frühe Beziehungserfahrungen prägen und entscheidend dafür sind, wie wir mit anderen Menschen in Kontakt treten, wie wir mit Problemen und Schwierigkeiten umgehen und wie wir uns selbst oder andere erleben, muss man auch als Therapeut*in in Beziehung gehen, um dies zu spüren, zu erkennen und bewusst zu machen.