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2.1 Aufspannen des therapeutischen Beziehungsraums 2.1.1 Versuchung und Versagung

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Der Beginn einer Psychotherapie ist eine regelrechte Zumutung für Patient*innen. Einesteils kann es für sie eine offensichtliche Kränkung und Beschämung bedeuten, etwas nicht alleine bewältigen zu können und auf Hilfe angewiesen zu sein. Doch damit nicht genug: Die Hilfesuchenden werden bereits bei Aufnahme des therapeutischen Kontakts in einen elementaren, unvermeidbaren Konflikt zwischen dem Wunsch nach Beziehung und einer möglichen Frustration hineingestoßen. Die therapeutische Begegnung stellt sowohl eine Versuchungssituation als auch eine Versagungssituation dar.

Die treffenden Begriffe Versuchung und Versagung wurden von Harald Schultz-Hencke (1892–1953) geprägt. Die bewusste Versuchung (Anziehung, Anreiz) in der Psychotherapie ist die Hoffnung, psychisch gesund zu werden. Die unbewusste Versuchung ist oft mit Beziehungswünschen verknüpft, wie etwa endlich verstanden, akzeptiert und geborgen zu sein. In jeder möglichen Versuchung oder in jedem Beziehungswunsch steckt gleichzeitig eine Angst vor dessen Versagung (Absage, Ablehnung). Die Versagung ist unvermeidbar: Die durch den gesetzlich-formalen Rahmen der Psychotherapie-Richtlinien geregelte therapeutische Beziehung ist immer nur ein begrenztes Angebot.

Schon Hermann Hesse (1877–1962) ermutigt in seinem Gedicht »Stufen«, sich immer wieder auf diese Versuchung der Begegnung einzulassen, da jedem Anfang ein Zauber innewohne und er betont, gleichzeitig zum Abschied bereit sein zu müssen, also Versagungen anzunehmen. Dieses kulturübergreifende, menschliche Thema machen sich Tiefenpsycholog*innen zunutze.

Nachfolgend das Beispiel einer Patientin mit emotional instabiler Neurosendisposition und ihrem Umgang mit dieser Konflikthaftigkeit in der therapeutischen Beziehung.

Eine Patientin brach immer wieder die Therapie mit der Begründung ab, ich sei »zu sachlich«, beende die Sitzung immer »überpünktlich« – sie könne sich deshalb »nicht einlassen«. Nach jedem Abbruch meldete sie sich einige Tage später wieder und wollte die Therapie unbedingt fortführen – nur ich könne ihr helfen.

Hier ist sichtbar, wie sehr sie zwischen der Versuchung einer idealen Therapiebeziehung und der Versagung, der Begrenztheit der emotionalen Beziehung hin- und hergerissen war. Intrapsychisch sind Versuchung und Versagung nicht integriert, sondern voneinander abgespalten. Versagungen erlebte sie als vollständige Ablehnung. Um das Gefühl des Abgelehnt-Seins abzuwehren, projizierte sie es auf mich und spaltete Beziehungswünsche aus ihrem Erleben; solange, bis ihre starken Wünsche nach emotionaler Beziehung wieder in ihr Bewusstsein drängten. Allein das Angebot einer Therapiebeziehung traf bei dieser Patientin auf so starke innerpsychische Ambivalenzen bzw. Unvereinbarkeiten, dass sie das Zustandekommen einer stabilen Therapiebeziehung boykottierte.

Psychodynamisch arbeitende Behandler*innen eröffnen von Beginn an freie Situationen der Begegnung. Sie lassen sich mit allen Sinnen auf die Interaktion mit ihren Patient*innen ein. Sie vergessen zunächst alle Theorien und sind offen für alles, was innerlich wie äußerlich passiert oder eben auch nicht. Gerade dann kann sich die jeweils eigene Beziehungsdynamik in dem unvermeidbaren Konfliktpotential zwischen Versuchung und Versagung entfalten.

Im Erkennen der im therapeutischen Kontakt auftauchenden Beziehungsdynamik liegt eine große therapeutische Chance. Ähnlich wie aus einem unter dem Mikroskop betrachteten Tropfen Blut direkt Rückschlüsse auf den Zustand des ganzen Körpers gezogen werden können, so können aus einzelnen therapeutischen Begegnungen Rückschlüsse auf innere Vorstellungen der Patient*innen von Beziehungen und die darin manifestierte Psychopathologie gezogen werden.

Facetten tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie

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