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2.1.2 Die therapeutische Haltung

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Vor einem Jahr sammelte meine damals dreijährige Tochter täglich Gegenstände wie Blätter oder Stöcke und gab sie mir. Ich sollte alles in meiner Hand halten. Einige Teile legte sie dann in eine Schatzkiste. Besonders zufrieden war sie, wenn ich mich auch für ihre Schätze interessierte. Einmal zeigte sie mir zwei Papierschnipsel und einen Mandarinenkern; ich habe es zwar bestaunt, dann aber gewohnheitsmäßig in den danebenstehenden Papiereimer fallen lassen. Sie rief empört: »Mama!«. Ich entschuldigte mich und angelte alles wieder aus dem Papierkorb. Heute, ein Jahr später, sammelt sie Schätze in ihren eigenen Jackentaschen.

Dieses Halten oder Aufbewahren von Gesammeltem muss zunächst von den Bezugspersonen übernommen werden, bevor Kinder es selbst können. Zudem ist es ein Äquivalent für das spätere Wahrnehmen und Bewahren von eigenen Gedanken und Gefühlen. Ähnlich wie Eltern die Funde ihrer Kinder aufbewahren, gemeinsam betrachten und benennen, ist gerade in den ersten Begegnungen der Behandlung eine ähnliche therapeutische Haltung förderlich. Durch dieses Aufbewahren entsteht ein Raum für die in der Therapie zentrale Selbsterfahrung.

Tiefenpsychologisch fundiert arbeitende Psychotherapeut*innen sammeln und bewahren aber nicht nur das offensichtlich Präsentierte. Sie sind darauf spezialisiert, die verborgenen unbewussten Schätze und Potentiale, aber auch das Unerträgliche zu entdecken und innerlich zu bewahren. Es ist das Abgewehrte – den Patient*innen ist es nicht möglich, es als Teil ihrer selbst wahr- oder anzunehmen.

Der von Wilfred Bion geprägte Fachbegriff dazu lautet Containing und bedeutet, zunächst die Äußerungen und Projektionen der Patient*innen in sich zu bewahren. Anschließend geht es darum, das für die Patient*innen Unerträgliche innerlich in etwas Erträgliches zu verwandeln. Im Therapeutenjargon heißt das auch: »Das muss ich jetzt erst mal verdauen.« Dieser Schritt kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Abschließend wird der Teil, von welchem die Patient*innen therapeutischen Nutzen haben könnten, zurückgegeben. Dieses Prozedere ist eine grundlegende therapeutische Haltung und bildet gleichzeitig eine wichtige Grundlage für das Durcharbeiten der Konflikte in der Therapiebeziehung.

Das Durcharbeiten in der Therapiebeziehung gestaltete sich mit der oben genannten Patientin mit immer wieder auftauchenden Abbruchwünschen folgendermaßen:

Mein pünktliches Beenden der Sitzung aktivierte bei ihr das Gefühl des Abgelehnt-Seins. Dieses Gefühl war für sie das Unerträgliche, sie versuchte sich dem Gefühl des Abgelehnt-Seins zu entledigen, indem sie es auf mich projizierte. So drehte sie den Spieß um und lehnte mich als ihre Therapeutin wütend ab.

Aufgrund der dramatischen Emotionalität kann es an dieser Stelle leicht zur projektiven Identifikation kommen: Der*die Therapeut*in identifiziert sich mit der Projektion,er*sie wird also aus dem Gefühl des Abgelehnt-Seins selbst zum*zur Ablehner*in. Wenn der*die Psychotherapeut*in dann im Alltagserleben haften bleibt, wird er*sie die Ablehnung gekränkt zurückgeben und die Therapie ebenso spontan abbrechen.

Aus diesem Dilemma versuchte ich herauszufinden: Ihr Gefühl des Abgelehnt-Werdens in unserem Kontakt sah ich als einen Tropfen Blut, in welchem sich ihr innerer, zentraler Konflikt abbildete. Demzufolge erlebte ich, stellvertretend für sie, Gefühle des Abgelehnt-Werdens, die sich mit Versagensgefühlen mischten und sah mich einem rigorosen Ablehner als Gegenüber. In diesem partiellen Zulassen der Verwicklung konnte ich erleben, welche Objektbeziehung oder Rollen zwischen uns aktualisiert waren. Für den Therapieerfolg war es entscheidend, für gewisse Zeit in den Schuhen der Patientin zu laufen, sodass ich empathisch bleiben und sie als das unerwünschte Kind ihrer als ablehnend erlebten Eltern wahrnehmen konnte. So konnte ich ihr destruktives Kontaktangebot verdauen und in etwas Konstruktives verwandeln. Ich validierte ihr Gefühl des Abgelehnt-Seins mir gegenüber und brachte es in einen biografischen Zusammenhang: »Sich so abgelehnt zu fühlen ist ja auch schlimm. Ich kann mir vorstellen, dass Sie ärgerlich auf mich sind.« Mein inneres Entgiften ihres Gefühls entschärfte ihr Gefühl im Kontakt zu mir.

Über 40 Therapiestunden war es wichtig, ihr Erleben sowie den Sinn ihres Erlebens zu validieren bzw. anzuerkennen. Mithilfe meiner für ihr Erleben stellvertretenden Beobachtung konnte sie so langsam selbst einen beobachtenden Standpunkt finden und ihn später immer wieder einnehmen. Erst dadurch entstand eine tragfähige Arbeitsbeziehung. Im weiteren Verlauf arbeiteten wir mehrmals ihre Reinszenierungen im therapeutischen Beziehungsraum durch. Nach und nach konnte sie mir mitteilen, was genau ihr das Gefühl der Ablehnung zwischen uns vermittelt und wie viel von diesem Gefühl auf die in ihrer Vergangenheit erlebte Ablehnung zurückzuführen war. Im letzten Drittel der Psychotherapie bemerkte sie immer öfter selbst, wenn sie Ablehnung auf mich oder andere projizierte. Sie wagte, sich auf erste lose Beziehungen außerhalb der therapeutischen Beziehung einzulassen, trotz befürchteter und allgegenwärtiger Versagungen. Meine Aufgabe war es, auftauchende Konflikte im Sinne ihres Beziehungsmusters zu deuten und ihr immer wieder Hoffnung zu machen, dass Beziehungen mit Begrenzungen nicht mehr nur weiß oder schwarz sind, sondern zum Beispiel hellgrün mit karminroten Flecken.

Bei dieser Patientin ist es, wie bei anderen Patient*innen mit umfassenden strukturellen Defiziten (z. B. in der Selbstwahrnehmung, Gefühlsregulation und Beziehungsgestaltung) auch, in den ersten Begegnungen eine besondere Herausforderung, ein tragfähiges Arbeitsbündnis herzustellen und im Verlauf zu erhalten (Boessmann & Remmers, 2017).

Daneben ist gut vorstellbar, wie wichtig die persönliche Passung oder Chemie zwischen Hilfesuchenden und Therapeut*innen ist. Diesem persönlichen Empfinden sollte in den ersten Begegnungen eine hohe Beachtung geschenkt werden. So wichtig wie für Patient*innen das Vertrauen den Therapeut*innen und dem empfohlenen Therapieweg gegenüber ist, ist es für die Therapeut*innen wesentlich, ob sie trotz offensichtlicher dysfunktionaler Einstellungen der Patient*innen ein positives Beziehungsangebot aufrechterhalten können (Rudolf, 2019). Wenn es den Behandelnden nicht gelingt, die hinter dem dysfunktionalen Beziehungsangebot liegende Bedürftigkeit oder etwas Sympathisches zu sehen, ist es besser, die Patient*innen an andere Therapeut*innen zu vermitteln.

Eine die aufbewahrende Haltung ergänzende Haltung beschreibt Ralf Zwiebel in seinem Buch »Was macht einen guten Psychoanalytiker aus?« (2013). Gute Behandler*innen können die Balance zwischen der Anwesenheit eines*r erlebenden Therapeut*in und eines*r denkenden Therapeut*in halten. Bildlich ausgedrückt verwickeln sich gute Behandler*innen immer wieder mit den Patient*innen wie ein Wollknäuel, um sich dann wieder zu entwirren und zu entwickeln.

Besonders in den ersten Begegnungen, aber auch während des Therapieverlaufs, entstehen viele unbehagliche Situationen der Verwicklung oder des Nicht-Verstehens, die eine hohe Affektregulierung auf Seiten der Therapeut*innen erfordern. Das direkte Erleben der gegenseitigen Verwicklung ermöglicht jedoch oft erst ein Verstehen der Beziehungsdynamik. Eine beständige Unsicherheit begleitet die therapeutische Arbeit, und es kann leicht passieren, einerseits im identifizierten Erleben oder andererseits im distanzierten Denken gefangen zu bleiben. Ein kontinuierliches Pendeln ist also unerlässlich.

Im Folgenden erläutere ich einige Bestandteile erster Begegnungen, die einen Zugang zum Verstehen der unbewussten Psychodynamik ermöglichen: das szenische Verstehen mit der damit verbundenen Übertragungs- und Gegenübertragungsdynamik sowie die Probetherapie.

Facetten tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie

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