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Die kopernikanische Wende der Ekklesiopraxis

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Die Pointe dieser Veränderungen aber heißt auch: die Sozialgestalten, die kirchlichen Orte, werden sich transformieren, sie tun es schon. Noch mehr: schon seit Jahren ist ein Prozess im Gange, der gewissermaßen zu einer kopernikanischen Wende der Ekklesiopraxis führt: war in einer (noch) gemeindekirchlichen Perspektive die klassische Gemeinde „Kern und Stern“, ja, geheime Mitte kirchlicher Gestalt und Existenz, um die herum auch noch andere kirchliche „Planeten“ kreisten, so rückt nun die gelebte und erfahrene Christuswirklichkeit – die „Sonne“ – in die Mitte, und es bildet sich ein „Planetensystem“ kirchlicher Orte, gewissermaßen ein Netzwerk, in dem unterschiedliche Zentren kirchlicher Existenz ein Gesamtgefüge vielfältiger Einheit abbilden. Diese Perspektive reicht weiter als die vielerorts fomulierte notwendige Ergänzung der Ortsgemeinde durch plurale gemeindliche Formen. Sie wagt es, Kirche aus christologischer und soziologischer Sicht als Ensemble unterschiedlicher Räume zu denken, die erst in ihrer Vielfalt sowohl die Phantasie des Heiligen Geistes als auch die Facetten unterschiedlicher Lebenswirklichkeiten spiegeln können.

Wie bei der astronomischen Entdeckung des Kopernikus führt dies zu gründlichen Neubestimmungen und zu nicht geringen Irritationen und Regressionen: aus dem Mittelpunkt gerückt muss die klassische örtliche „Territorialgemeinde“ in der katholischen Kirche auch angesichts der prekären Begleitung durch Priester und Hauptberufliche ihr Profil entwickeln als lebensräumlich und wohnraumnah verortete Gemeinde im Sinne der basiskirchlichen Ansätze, die weltkirchlich ausgereift sind und in den vergangenen Jahren im deutschen Sprachraum in experimentalen Entwicklungsprozessen wachsen.1 Seitens der evangelischen Kirche steht dieser Perspektivenwechsel vielerorts noch bevor. Doch der Trend zu Regionalisierungsprozessen und Fusionen weist in die gleiche Richtung, wenn man ihn nicht nur pragmatisch als Optimierung bestehender Arbeit angesichts schwindender Ressourcen fasst, sondern mit der theologischen Frage nach dem Auftrag im konkreten lokalen Kontext verbindet.

Zugleich wächst die Einsicht, dass seit mindestens einem Jahrzehnt Familienbildungsstätten, Kindergärten, Altenheime, Schulen und andere Einrichtungen, Verbände und Kirchliche Bewegungen zu unterschiedlich intensiven kirchlichen Existenzräumen werden. Es stellt sich die Frage neu, wie diese „Schaufenster“ des Evangeliums und der Kirche, die im übrigen gesellschaftlich mehr wahrgenommen und geschätzt werden als innerkirchlich, als Orte des Kircheseins entwickelt werden können und wie phänomenologisch und induktiv ihre implizite Ekklesiologie gehoben werden kann. Denn hier begegnet vielen Menschen Kirche authentisch, mit Bezug zur alltäglichen Lebenswelt und wird entsprechend als „unsere Kirche“ wahrgenommen.

Ebenfalls neu in den Blick rückt aber die Perspektive, dass Gemeinden gegründet werden könnten: eben weil Menschen heute in anderer Weise zum Christsein kommen und ihr Christsein bezeugen und leben wollen, entstehen neue Gemeindeformen, entstehen neue Initiativen – eigentlich überall. Und hierbei geht es nicht um schrille Sonderfälle, sondern um eine genuine Bewegung leidenschaftlicher Christen – in allen Konfessionen.

Das betrifft also beide Konfessionen gleichermaßen – und das macht unseren Prozess so spannend, und die Frage lautet: Was ist gemeint, wenn wir von Kirche sprechen, wie geht Kirche heute und morgen – wie „kirchen“ wir, um diese Dynamik einmal in einem Neologismus zu beschreiben? Die Fragen, die sich daraus ergeben, sind Legion – und sie sind brisant, angefangen von der Grundproblematik, wie denn die klassisch geprägten Gemeinden zu den neuen Sozialgestalten stehen.

Vielleicht hat niemand dies so tief und so bewegend formuliert wie Dietrich Bonhoeffer, der 1944 voraussah, dass die gesellschaftlichen und kulturellen Transformationen zu einer veritablen Neugeburt kirchlicher Wirklichkeit führen müssen. Die paschatheologische Relevanz der „ecclesia semper reformanda“ wird bei ihm in aller Deutlichkeit formuliert:

„Du wirst heute zum Christen getauft. All die alten großen Worte der christlichen Verkündigung werden über dir ausgesprochen und der Taufbefehl Jesu Christi wird an dir vollzogen, ohne dass du etwas davon begreifst. Aber auch wir selbst sind wieder ganz auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen. Was Versöhnung und Erlösung, was Wiedergeburt und Heiliger Geist, was Feindesliebe, Kreuz und Auferstehung, was Leben in Christus und Nachfolge Christi heißt, das alles ist so schwer und so fern, dass wir es kaum mehr wagen, davon zu sprechen. In den überlieferten Worten und Handlungen ahnen wir etwas ganz Neues und Umwälzendes, ohne es noch fassen und aussprechen zu können. Das ist unsere eigene Schuld. Unsere Kirche, die in diesen Jahren nur um ihre Selbsterhaltung gekämpft hat, als wäre sie ein Selbstzweck, ist unfähig, Träger des versöhnenden und erlösenden Wortes für die Menschen und für die Welt zu sein. Darum müssen frühere Worte kraftlos werden und verstummen, und unser Christsein wird heute nur aus zweierlei bestehen: im Beten und Tun des Gerechten unter den Menschen. Alles Denken, Reden und Organisieren in den Dingen des Christentums muss neugeboren werden aus diesem Beten und diesem Tun. Bist du groß bist, wird sich die Gestalt der Kirche sehr verändert haben. Die Umschmelzung ist noch nicht zu Ende, und jeder Versuch, ihr vorzeitig zu neuer organisatorischer Machtentfaltung zu verhelfen, wird nur eine Verzögerung ihrer Umkehr und Läuterung sein. Es ist nicht unsere Sache, den Tag vorauszusagen – aber der Tag wird kommen –, an dem wieder Menschen berufen werden, das Wort Gottes so auszusprechen, dass sich die Welt darunter verändert und erneuert …“ (Widerstand und Ergebung, DBW 8, 435).

Wir stehen nicht – wie er – vor diesem Prozess. Wir sind mitten drin in diesem reinigenden, läuternden und kreativen Wandlungsgeschehen. Und genau das hat uns auf den Weg gebracht, gemeinsam nach neuen Gemeinden für morgen zu suchen

Gottes Sehnsucht in der Stadt

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