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Vorwort

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Ebenso lustvoll wie spannend war es, als wir im September 2009 mit einer ökumenischen Reisegruppe nach London aufbrachen, um Beispiele für eine missionarisch ausgerichtete Kirche und für fresh expressions of church kennen zu lernen. Wir waren ordentlich vorbereitet, hatten viel gehört über „unchurched“ und „dechurched“, über Säkularisierung und Entkirchlichung wie über die missionarische Neuausrichtung in der anglikanischen Kirche. „Gott spricht mit uns in einer Sprache, die wir verstehen“, hatte Bischof Finney bei der Vorbereitung gesagt, „der Sprache des Geldes“. So waren wir neugierig. „Dem englischen Patienten geht es besser“, hatten wir ja gelesen (s. S. 39 ff).

Die erste Begegnung hatten wir in der St. Johns Church beim Hyde Park. Ein Grundlagengespräch mit Kerry Thorpe, bei dem man sofort merkte: Von dieser konsequent auf Außenstehende gerichteten missionarischen Perspektive können wir viel lernen. Da geht es nicht mehr um die altbackene Alternative von Komm-Struktur und Geh-Struktur. Nicht: ‚Geh, damit die anderen kommen‘, sondern: ‚Geh, um bei den Menschen zu leben‘. Das erfordert eine Pluralität von kirchlichen Lebensformen, die in England auf regionaler Ebene entstehen, die aber auch der Bischof von sich aus auf den Weg bringen kann.

Schon vor dem Gespräch entdeckten wir im Eingang der Kirche eine Preisliste. Ein Trauergottesdienst kostet hier 125 Pfund, eine Trauung 254 Pfund. Für Kirchennutzung sowie Tätigkeiten des Pfarrers und des Music Director sind saftige dreistellige Beträge festgesetzt. (Schön übrigens: Die Taufe kostet ganze 12 Pfund. Ein Missionssakrament ist sie – dort wie hier.) Die Liste macht schnell deutlich: So vertraut vieles erscheint, die kirchlichen Strukturen sind doch auch sehr unterschiedlich. Unser Kirchensteuersystem ist dort fremd. Damit treten die Folgen von religiöser Pluralisierung und Säkularisierung offenkundig viel schärfer zu Tage als bei uns. Unser System ist vergleichsweise stabiler. Es ermöglicht damit vieles an guter Arbeit. Aber es birgt die Gefahr, sich über die geistliche Erosion der Volkskirche hinwegzutäuschen. Die anglikanische Kirche schaut manchen Realitäten, die wir zwar benennen, aber noch nicht wirklich spüren (bis 2030 30% weniger Kirchenglieder, die 50% weniger Geld, so das EKD-Papier „Kirche der Freiheit“) deutlich schärfer ins Angesicht. Schon damit ist sie ein spannendes Lernfeld.

In den nächsten Tagen erfuhren wir vieles über den missionarischen Aufbruch in der anglikanischen Kirche als Mission shaped church. Hoch interessante Zielgruppengemeinden erlebten wir. Legacy XS – eine Kirche für junge Leute, Skater und BMX-Fahrer, mit einem ausgewachsenen Skatingcenter und auch noch einer angelagerten Art Jugendkommunität. Oder Church on the corner, eine Kirche in der früheren Kneipe – eine Gemeinde, für junge Berufstätige zwischen 20 und 30 – ausschließlich.

Die Messychurch, die es in England inzwischen an bald 200 Orten gibt, erlebten wir, eine Art von Familienkirche, ein niederschwelliges Angebot für Eltern und Kinder mit Essen, Spiel, Begegnung und Gottesdienst. Sie wirkt einem Kindernachmittag o.ä. bei uns ähnlich, versteht sich aber – und das ist die Differenz – als eigenständige Form gemeindlichen Lebens, nicht nur als „Veranstaltung“ im Gemeindeleben. Dieses Projekt ist nach meiner Kenntnis das einzige, das einen aus unserer Reisegruppe unmittelbar zur Nachahmung inspirierte, weil es auch innerhalb einer Gemeinde ohne große Anpassungsprobleme umsetzbar ist (s. den Bericht von Matthias Paul. S. 257).

Auch church-planting-Projekte in engeren Sinn (konkret im „Ableger“-Modus) sahen wir (St. Stephen‘s in Twickenham; All Souls in St. Margarets). Sie sind eindrucksvoll. Mit Zustimmung des Bischofs hat etwa eine lebendige Gemeinde ein Team entsandt, das eine Kirche mit neuem Leben füllt, in die vorher nur noch wenige alte Leute kamen und die sonst vor der Schließung gestanden hätte. Der Bischof übernahm auch die Personalkosten für den Pastor. Dabei, so hören wir, muss das Team von Haupt- und Ehrenamtlichen schon immer so groß sein, dass eine kritische Mindestgröße überschritten wird, damit ein einladender Gottesdienst gefeiert werden kann. Heute sind in der neu belebten Gemeinde am Sonntag 120 Erwachsene und 120 Kinder, ein zweiter Gottesdienst musste ins Programm.

So gibt es ein ganzes Netz von neu gegründeten Gemeinden in London. Das alles ist faszinierend, etliche Gemeinden mit einer kräftigen missionarischen „Körpersprache“. Da wüsste ich auch manche Kirche bei uns, für die ich mir so etwas wünschen würde. Gleichwohl ließ mich das Londoner Modell auch etwas ratlos zurück. Die Gemeinden, die wir trafen, haben alle einen bestimmten Frömmigkeitsstil, den sie selbst im Spektrum der anglikanischen Kirche als den „charismatisch-evangelikalen“ Typ bezeichnen. Die Gottesdienste sind alternativ wie bei uns im durch Willow Creek inspirierten „zweiten Programm“. In London steht die Gemeinde Holy Trinity Brompton im Hintergrund, eine Mega-Church, in der der Alpha-Kurs entwickelt wurde. Es war großartig, sie kennen zu lernen. Nur: das alles scheint mir auf deutsche volkskirchliche Verhältnisse kaum übertragbar. Die Gemeinde, die in diesem Stil mit 300 Personen Gottesdienst feiert und nun ein Gründungsteam an einen anderen Ort senden könnte – sie kenne ich eigentlich nicht. Ein Erneuerungskonzept für die Breite unserer Kirche kann ich hier im Moment nicht recht erkennen. Ich weiß, dass es auch in England verschiedene church-planting-Modelle gibt. Nach dem, was wir erleben konnten, habe ich an dieser Stelle aber nach London mehr offene Fragen als vorher.

Es konnte nun wahrlich nicht überraschen, dass offenkundig das Meiste nicht ohne Weiteres auf deutsche Verhältnis zu übertragen ist. Wir hatten ja auch das liebevoll bösartige Diktum von irgendjemandem gehört, die Deutschen sollten endlich ihre eigenen missionarischen Hausaufgaben machen und aufhören, die englischen Gemeinden mit ständigen Besuchsreisen von der Arbeit abzuhalten.

Was aber habe ich in England gelernt?

Am Wichtigsten scheint mir die generelle Ausrichtung auf den missionarischen Auftrag der Kirche, „a strong mission focus“ – die Einsicht, dass es eine gesamtkirchliche Aufgabe ist, mit dem Evangelium neu auf bisher nicht erreichte Menschen und Milieus zuzugehen. Das ist zuerst keine Strukturfrage, sondern eine geistliche und theologische Herausforderung an die Menschen in der Kirche. Viele Papiere unserer deutschen Kirchen postulieren diesen Neuaufbruch seit Jahren, die Wirklichkeit ist noch längst nicht immer soweit. In England aber wird vieles davon erfahrbar, und zwar so, dass es ansteckt und einlädt. Vielleicht macht es die etwas gebrochene Wahrnehmung des Eigenen im Fremden leichter. So jedenfalls ging es unserer Reisegruppe. Ich glaube, dass war der Hauptertrag unserer Englandreise: Eine kräftige Ermutigung, sich auf eine missionarische Ausrichtung der kirchlichen Arbeit kreativ und auch mutig einzulassen. Diesem Geist konnte sich – so unterschiedlich die kirchlichen Vorprägungen waren – eigentlich keiner in unserer Gruppe entziehen. Das war bemerkenswert.

Die Sozialformen, mit denen das in England geschieht, sind bei uns noch relativ wenig in Erscheinung getreten. Sehr eingeleuchtet aber hat mir das Plädoyer für eine mixed economy, eine Pluralität an bewährten und neuen Gemeindeformen und Gemeindeprofilen. Mixed economy – das dürfte für unsere Volkskirche vor allem heißen: Unsere Mission muss plural sein in ihren Formen und auch in ihren Frömmigkeitsstilen. Und unsere Volkskirche muss in all ihrer Pluralität missionarisch sein.

Natürlich brauchen wir eine mixed economy in den Gemeindeformen und haben sie in Teilen schon. Ich bin inzwischen Landessuperintendent für einen Sprengel in der hannoverschen Landeskirche mit gut 200, meist ländlichen Kirchengemeinden. Nicht wenige sind strukturell relativ gesund und zukunftsfähig. Zu meiner Freude gibt es viele Kirchengemeinden mit einer beachtlichen missionarischen Ausstrahlungskraft. Noch weniger als früher halte ich jetzt etwas davon, unsere Kirchengemeinden klein – oder gar kaputt zu reden. Das stimmt geistlich nicht, und es stimmt – bei allen Problemen – oft auch empirisch nicht. Und vor allem: Das Allermeiste, was ich an gelingender missionarischer Arbeit in unserer Kirche kenne, läuft in und mit den Gemeinden.

Deshalb bin ich mir bei allem entschlossenen Ja zu einem missionarischen Neuaufbruch der Kirche auch nicht sicher, wie groß die historischen Metaphern sind, die man bemühen sollte. Die Antwort hängt sicher davon ab, wie stark man jeweils die Krise wahrnimmt, das variiert konfessionell und regional. Aber ob es sich wirklich um eine „kopernikanische Wende“ – so die Einleitung S. 19 – handelt oder doch eher um den stets nötigen Prozess der reformatio der ecclesia semper reformanda, darüber lasst uns in 30 Jahren noch einmal reden.

Mixed ecnonomy: Das muss besonders für die unterschiedliche Profilierung von Gemeinden gelten, ganz besonders im städtischen Bereich. Hier sind unterschiedliche Stile, Gottesdienstformen, Zielgruppen, Schwerpunkte hoch notwendig. Da ist noch einiges zu tun. Das war auch eines der Ergebnisse der Diskussion um das EKD-Impulspapier „Kirche der Freiheit“, das für 2030 nur noch 50% Parochialgemeinden im Blick hatte und 50% Profil- und Passantengemeinden. Nicht um die Relativierung der Gemeinde könne es primär gehen, so wurde in der Diskussion immer wieder gesagt, sondern um deren Profilierung. Das leuchtet mir für den Bereich, den ich überschaue, sehr ein. In den schwach besiedelten und entkirchlichten Gebieten Ostdeutschlands mag das noch einmal anders aussehen, in ausgeprägter Diasporasituation ebenfalls – da stellen sich ganz andere strukturelle Frage nach Gemeindeformen. Auch das ist dann mixed economy: Auf unterschiedliche Situationen unterschiedlich reagieren.

Dazu kommen die zwingend notwendigen Ergänzungen zur Parochialgemeinde: Die Menschen, die sich um Bildungszentren sammeln oder um Klöster und Kommunitäten, in der Schule oder auf Freizeiten (unsere Jugendarbeit läuft ja selten nur noch im klassischen Modell der Parochie). Auch um missionarische „Leuchttürme“ wie etwa den Expo-Wal in Hannover. An der Küste erlebe ich die unerhörten missionarischen Chancen der kirchlichen Arbeit unter Urlaubern. Es gibt schon manche fresh expressions – aber es können noch viel mehr werden.

An dieser Stelle sehe ich auch strukturelle Probleme und Hausaufgaben: Das System der Geldverteilung in unserer Kirche führt leicht zu einem Verteilungswettbewerb zwischen Gemeinden und anderen Formen kirchlicher Vergemeinschaftung. Dabei ziehen neue und innovative Formen (aus verständlichen Gründen) zu oft den Kürzeren, denn über die Verteilung entscheiden Gemeindevertreter. Und nachdenklich gemacht hat mich in England: Kommunikativ und missionarisch begabte Leute – und allermeist sind wir solchen in den besuchten Projekten begegnet – gibt es dort wiehier, Gott sei Dank. Die anglikanische Kirche aber ist weiter darin, solchen Personen durch spezielle Aufträge Freiräume zu verschaffen, ihre Gabe für eine missionarisch frische Kirche einzusetzen. Bei uns besteht die Gefahr, dass die Routineaufgaben in Kirchengemeinde und Kirchenkreis viel Energie absorbieren. Hier könnten wir im Blick auf missionarisch-strategischen „Unternehmergeist“ (entrepreneurial spirit) – das Wort fiel in England einmal – einiges lernen, denke ich.

Übrigens: Rechtlich gibt es in unserer Kirche jede Menge Möglichkeiten, neue Gemeindeformen zu etablieren. Die hannoversche Kirchenverfassung etwa sieht eine ganze Reihe von Gemeindemodellen vor. Ich befürchte hier auch keinen kirchenleitenden Strukturkonservativismus. Auch finanziell bekommt man für eine gute Idee aus irgendeinem Fördertopf oft eine Anschub-finanzierung. Schützen muss man frische Ideen in unseren evangelischen Strukturen allerdings wohl vor Bedenkenträgern und vor der Fülle der zu beteiligenden Gremien, die mürbe machen können. Nötig sind vor allem aber Menschen, die mit geistlichem Elan neue Ideen entwickeln und anpacken. Ich würde mich sehr freuen, in den kommenden Jahren die eine oder andere fresh expression in meinem Sprengel mit fördern zu können.

Zwei Dinge vor allem sind es, die ich an diesem Buch und der dahinter stehenden Bewegung hervorragend finde: Einmal die leidenschaftliche Suche nach neuen Wegen, missionarisch ausstrahlungsfähige Volkskirche zu sein. Ich nehme in all unserem Nachdenken – auch in diesem Buch – ein Suchen wahr nach neuen Wegen. Den missionarischen Königsweg kennt ja offensichtlich im Moment niemand. Es sind viele kleine Schritte, die erprobt werden. Aber diese missionarische Pfadfinderarbeit ist nötig – im Vertrauen auf Gottes Auftrag und auf seine Verheißung.

Und dann den ökumenischen Charakter. Und der ist ja doppelt. Einmal das Lernen bei den anglikanischen Geschwistern. Und dann das gemeinsame Lernen durch evangelische und katholische Christen. Beides habe ich im konkreten Vollzug als außerordentlich bereichernd erlebt.

Besonders bemerkenswert finde ich die gar nicht alltägliche evangelisch-katholische Zusammenarbeit. Sie ist noch einmal etwas anderes als der offizielle ökumenische Dialog über Apostolizität, Amt und Eucharistie einerseits und die Basisökumene auf Gemeindeebene. Offizielle Vertreter und Multiplikatoren in Bistum und Landeskirche stellen sich gemeinsam den Herausforderungen des Kircheseins von morgen. Das finde ich zukunftsweisend, auch für die Ökumene. Dass das in kollegialer Inspiration und großer Geschwisterlichkeit möglich ist, dafür bin ich besonders dankbar.

Landessuperintendent Dr. Hans Christian Brandy, Stade

Gottes Sehnsucht in der Stadt

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