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Die überforderte Gesellschaft

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Lassen Sie mich kurz auf die Bahnhofsbuchhandlungen zurückkommen. Allein der Blick auf die Regalmeter der Literatur zu Computertechnik und Hobbys lässt erahnen, mit welchen Dingen Menschen ihre Zeit verbringen. Natürlich hat der Einzug der Personalcomputer eine neue Stufe der digitalen und damit Informationsrevolution eingeleitet. Die entsprechenden Firmen wie MICROSOFT, IBM, INTEL etc. feiern in diesen Tagen Geburtstag und sind gerade erstmal erwachsen geworden. Noch vor 20 Jahren waren Computer in Privathaushalten eine Ausnahme, heute verfügt beinahe jeder Haushalt in Deutschland über einen eigenen Internetzugang. Als man vor 20 Jahren einen Telefonanschluss ins Haus legen ließ, gab es dafür einen Anbieter und einen kleinen Apparat mit Wählscheibe, entweder grau oder orange, später hatte man auch noch die Wahlmöglichkeit grün. Heute benötigt man für die Auswahl des Anbieters, des entsprechenden Modells sogar Ratgeberliteratur (die es in den Bahnhofsbuchhandlungen zuhauf gibt). Die Wahl des passenden Handys wird zum abendfüllenden Projekt. Nun füllen die Abende aber auch noch ganz andere Projekte. Blickt man auf die Titelseiten der Zeitungen und Illustrierten, sind es viel wichtigere Fragen: die Entscheidung für die richtige Krankenversicherung, Altersvorsorge, die Weichenstellungen für die persönliche Fortbildung, Gesundheitsfragen. Der Beruf, etymologisch durchaus auf Berufung zurückzuführen, und damit auf eine lebenslange Bestimmung für eine Tätigkeit in einem Unternehmen, wurde längst zum Job. Und das bereits vorgetragene Plädoyer, die großen Fragen nach Armut und Gerechtigkeit weltweit in den Blick zu nehmen, soll nicht darüber hinwegsehen lassen, wie sehr auch hierzulande Menschen um ihre Existenz ringen. Armut ist ja ein doppeltes Phänomen: Wenn wir von primärer Armut sprechen, handelt es sich um den Mangel an grundlegenden Mitteln zur Selbsterhaltung. Aber sekundäre Armut, die nicht mehr einen der Umwelt entsprechenden Lebenswandel ermöglicht, betrifft zunehmend mehr und soll nicht bagatellisiert werden. Die Menschen in unserer Gesellschaft sind unsicher geworden, Lebensentwürfe sind für einen Großteil unserer Bevölkerung nichts Abgeschlossenes und auch nichts Langfristiges mehr. In dieser verschärften „neuen Unübersichtlichkeit“ (Jürgen Habermas) sind die Anforderungen immens gestiegen. Es mag aus diesem Blickwinkel heraus nicht verwundern, dass die Ratgeberliteratur und der Anteil an Büchern zu spirituellen Themen ebenso zugenommen haben. Noch im mittlerweile vorletzten Jahrhundert kannte man die Sparte Erbauungsliteratur. Auch diese jetzige Literatur versucht zu erbauen, den Menschen aufzubauen, der unter der Last der Anforderungen schier zusammenbricht. Natürlich sind dies gemessen an den oben zitierten Herausforderungen von Hunger und Ausbeutung Luxusfragen und man möchte mit Friedrich Nietzsche resigniert feststellen, dass jede Kulturstufe ihre eigenen Probleme schafft. Aber die Mitglieder einer überforderten Gesellschaft zwischen Hartz IV und Burnout haben keinen Freiraum mehr für Kreativität. Erst recht nicht für eine Kreativität, die ihre Energie auf Fragen der Gestaltung der eigenen Welt unter Berücksichtigung globaler Zusammenhänge wirft. Wer überfordert und überlastet ist, der verliert die Fähigkeit zur Empathie, also dem Ein- und Mitfühlen mit anderen und hier eben auch mit den Armen und Entrechteten. Wer überfordert ist, verliert auch die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel. Wer selbst aufgrund hoher Belastung mit eigenen Diätwünschen nicht zurecht kommt, der kann sich nicht um den vor Hunger Sterbenden kümmern. So paradox und zynisch dies klingen mag, so einfach ist es psychologisch zu erklären. Und an dieses Bild schließt sich auch die ironische Umdeutung des Leitsatzes eines christlichen Hilfswerkes an: „Brot für die Welt – Kuchen für uns.“ Verzicht und Relativierung des eigenen Lebensstandards gehören nicht gerade zum gängigen Repertoire persönlicher Lebensführung. Und gleichzeitig sind es zum Teil banale Binsenweisheiten der regalweise vorhandenen Ratgeberliteratur zu „Simplify your life“, „Finde die Mitte“, „Die Kunst der Balance“ etc., die darauf zielen, was die Entfaltung von Kreativität benötigt: Entschleunigung des Lebensrhythmus und eine Balance von Genuss und Verzicht. Ein Blick auf den Ursprung des Wortes Kreativität ist an dieser Stelle vielleicht noch hilfreich. Es geht auf das lateinische Wort creare zurück, das eben etwas erfinden, erzeugen, neu schöpfen, meint. Es klingt aber auch das Wort crescere an, das soviel heißt wie „werden, wachsen, wachsen lassen“. Der bereits zitierte Kreativitätsforscher Holm Hadulla betont daher auch die Balance von aktivem Gestalten und passivem Geschehen als fördernd für Kreativität. Ein Blick auf viele kreative Köpfe scheint dies zu bestätigen, die ihr „Heureka-Erlebnis“ hatten. Dieses Wort geht bekanntlich auf Archimedes zurück, der aus Intuition beim Einsteigen in eine übervolle Badewanne das Prinzip der Hydrostatik entdeckt habe. Viele Beispiele in dieser Tradition ließen sich anführen, der Apfel Newtons, Darwins Wagenfahrt, Kekulés Schlange. Dem Mathematiker Gauß wird als Beleg von Intuition als Voraussetzung von Entdeckungen der Satz zugeschrieben: „Meine Ergebnisse habe ich schon, nur weiß ich noch nicht, auf welchen Wege ich zu ihnen gelangen werde“, und der Chemiker Kekulé fasste es in einer Rede zum 25jährigen Benzolfest 1890 in Berlin so zusammen: „Lernen wir träumen, meine Herren, dann finden wir vielleicht die Wahrheit – aber hüten wir uns davor, unsere Träume zu veröffentlichen, ehe sie durch den wachen Verstand geprüft worden sind.“

Zur Entwicklung von Kreativität benötigen wir also mehr als rationale Problemlösungsstrategien, so auch das Credo all der genannten Ratgeberliteratur. Wer sich also nach alten und neuen Lebensweisheiten richtet, der schafft mehr an innerer Zufriedenheit, Sinnhaftigkeit, mehr an Leistungsfähigkeit und eben auch Kreativität. Letztgenannte, und damit schließt sich der Kreis, sollte aber nicht zur Optimierung der Arbeitsleistung und damit der Ich-AG eingesetzt werden, auch nicht zur Steigerung des eigenen Hedonismus. Sie sollte dazu führen, den Geist zu öffnen, das Herz zu weiten und die weltweiten Verletzungen des Menschlichen einzubeziehen. Unsere weltliche Sinnleere nimmt mit zunehmender Ausgrenzung der sozialen Wirklichkeit der Menschen weltweit zu.

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