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Siegfried Grillmeyer Kreativität als Mittel zum Zweck Streifzüge durch Buchhandlungen

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Gönnen Sie sich auch manchmal ein paar ziellose Minuten in einer Buchhandlung? Einfach die Augen über Regale und auch Auslagen gleiten lassen, das eine oder andere Buch in die Hand nehmen, Klappentexte lesen und ein bisschen reinblättern? Zugegebenermaßen liegt diesem Tun keine bewusste Entscheidung zugrunde, eher ist es eine willkommene Ablenkung auf dem Weg von A nach B. Vielleicht ist es ja der Genuss, einmal wieder reale Gegenstände mit Wissen und Informationen in der Hand zu halten, anstatt in den virtuellen Welten durch Texte und Bilder zu browsern. Aber wie gesagt, vielleicht ist es auch nur Zeitvertreib, gestaltete Langeweile. Besonders geeignet erscheinen dafür Bahnhofsbuchhandlungen. Die Zugverspätungen oder die unbewusst, manchmal auch bewusst zu groß bemessene Zeit auf dem Weg zum Bahnsteig sind die besten Ausreden, dieser Leidenschaft nachzugehen. Im reich dargebotenen Zeitschriftenangebot kann man sich noch mehr der Illusion hingeben, durch einen flüchtigen Blick die Fragen der Zeit erfassen zu können. Zeitschriften und ihre Titelgeschichten, Romane und Sachbücher auf den Bestsellerlisten und Bücherstapeln verheißen, den Zeitgeist zu erhaschen. Hier dürften doch die Themen aufscheinen, welche die Menschen bewegen.

Zumeist bringt man aber doch von diesen geistigen Beutezügen die bekannten und üblichen verdächtigen Themen mit: Partnerschaft und Lebensgestaltung, ein wenig Esoterik und Astrologie und natürlich sind immer auch Körperlichkeit und Sexualität ausgiebig vertreten, sie scheinen unerschöpfliche Themen der Menschheit zu sein. Etwas vornehmer ausgedrückt als der journalistische Grundsatz „Sex sells“ scheinen Fragen der Befindlichkeit, des Wohlbefindens und Wohlgefallens, sowohl außen wie innen, anthropologische Grundinteressen zu sein. Daneben erstreckt sich das Meer an Reiseliteratur. Vielleicht ein ebenso ungestilltes Bedürfnis nach Träumen und Realitätsflucht. Faszinierend auch die schier unendliche Vielfalt an Hobbys, die ihren publizistischen Widerhall finden. Alle Zugverspätungen dieser Welt reichen nicht aus, um das Angebot zu sichten: Magazine für Taschenuhrliebhaber, Sportangler, Taucher, Tierzüchter, Gartenbauer und Obstveredler, Bleifigurensammler … Ein Meer an – zumindest für einen Laien und nur imaginäres Mitglied dieser Leser- und Interessensgemeinschaften – nutzlosem Wissen. Dieser Aufteilung in Einzelsparten widerspricht ein anderer Trend: Versuche, alles Wissen zu katalogisieren und dingfest zu machen. Nie gab es so viele Enzyklopädien, Sammlungen, sachspezifische Nachschlagewerke. Drei Sparten haben sich daneben in den letzten Jahren immer mehr Regalmeter erobert. Zum ersten sind es Computerzeitschriften. Die Welt der Rechner mag virtuell sein, ihre Beschreibung und Fortentwicklung ist aber ganz real. Seitenweise, ob in Zeitschriften oder begleitenden Schmökern, wird jede Anwendung, jede Spielvariante bewertet, diskutiert, erklärt und weiter entwickelt. Zum zweiten die Welt der Wirtschaft und der Börse. Nicht nur, dass sich seit langem besondere Zeitungen und Zeitschriften mit diesem Schwerpunkt etablieren konnten, sie brachten auch Kinder und Enkel als Journale und Sonderausgaben, ja, ganze Buchreihen hervor. Die Dominanz der Wirtschaft, das sei nun doch als Feststellung gewagt, lässt sich bei empirischen Studien des Zeitschriften- und Büchermarktes ablesen. Die einschlägigen Fachzeitschriften aus dem Bereich der Politik sind daher eher Feigenblätter in diesem Blätterwald. Auch wenn das Schlagwort der „Ich-AG“ mittlerweile auf den Titelseiten eher verschwunden ist, die allgemeine Beschäftigung der Wirtschaft geht einher mit einer immensen Ratgeberliteratur: selbstständig machen, Karriere gestalten, persönliche Optimierungsstrategien. Und schließlich, das scheint nun überraschend, hat auch der Bereich der Spiritualität zugenommen. Auch wenn die Zeiten eines „New Age“ vorbei sind. Religion ist zumindest in Zeitschriften und Bücherbeständen ein zunehmender Markt. Hape Kerkelings „Jakobsweg“ lag nun nicht nur über Monate, sondern über Jahre hinweg gleich turmhoch beim Ausgang zu Gleis 1.

Wenn Sie es bisher geschafft haben, diesen Gedanken zu folgen, hat dies entweder mit Langmut oder einem unbeschwerten und damit nicht zielorientierten Leseverhalten zu tun. Aber der Kreis, was dieser beschriebene Gang durch Buchhandlungen mit Kreativität zu tun hat, lässt sich leicht schließen. Der erste Schluss ist ganz einfach: Der Gegenstand der Kreativität ist im Verlauf der letzten Monate und Jahre zu einem Hauptthema geworden. Er taucht in all der genannten Literatur vermehrt auf: Spiritualität und Persönlichkeitsliteratur fragen nach Kreativität, ebenso die Computerbranche und die Wirtschaftswissenschaften. Gleiches gilt sogar für die eher geistfernen Lifestyle-Magazine, die sich ihrer vermehrt annehmen. Nicht zuletzt die Gehirnforschung hat hier ganz wesentliche Impulse geliefert. Kreativität findet als Thema seinen Platz zunehmend in diesem Markt der dominierenden Ideen und Themen. Dabei muss sich Kreativität aber stark der beherrschenden Strömung unterordnen. Am meisten interessieren sich mittlerweile die Wirtschaftswissenschaften und ihre populären Ableger dafür. Kreativität ist schlichtweg ein Kapital. Ein immer stärker an Bedeutung zunehmendes Kapital für die einheimische Wirtschaft, um gegen die zunehmende Dominanz der asiatischen Konzerne bestehen zu können. Ein Kapital aber auch für den Einzelnen. Kreativität hat einen Zweck, nämlich die Steigerung der persönlichen Leistungsfähigkeit. Der Marktwert der persönlichen Ich-AG steht im Vordergrund. Dem französischen Soziologen Bourdieu kommt der Verdienst zu, den Marx’schen Kapitalbegriff aus seiner wirtschaftlichen Verengung gelöst und zu seiner umfassenden Erklärungsmatrix sozialer Phänomene erweitert zu haben. Neben dem ökonomischen Kapital, das dem traditionellen Begriff entspricht, führt er drei weitere Definitionen an: Zum ersten das Konzept des kulturellen Kapitals. Dieses umfasst Bildung und Wissen (inkorporiertes kulturelles Kapital) und Diplome und Titel (institutionelles kulturelles Kapital). Zum zweiten das Konzept des sozialen Kapitals. Jenes umfasst Beziehungen, Bekanntschaften, sowie die Zugehörigkeit zu Seilschaften, Clubs und Korporationen unterschiedlichster Art. Ein dritter Begriff schließlich bildet die übergeordnete Klammer als sichtbarer Ausdruck der beiden Konzepte von kulturellem und sozialem Kapital: das symbolische Kapital. Damit können Phänomene wie Mäzenatentum und Vereinsmitgliedschaften ebenso gedeutet werden wie Engagement im ehrenamtlichen Bereich. Bourdieu hat in einem erweiterten Modell der „Ökonomie der Praxisformen“ betont, dass der Bereich des symbolischen Kapitals den gleichen Spielregeln unterworfen ist wie die wirtschaftlichen Kapitalbewegungen. Auch dort kann man Investitionen, Akkumulationen und Profitmaximierung vorfinden. Nur lassen sich diese Spielregeln und Wirkungszusammenhänge nicht so einfach erklären. Wesentliches Kennzeichen des symbolischen Kapitals ist es nämlich, dass seine Nutzenorientierung nicht offen zutage tritt und größerer Labilität unterworfen ist als im Bereich des ökonomischen Kapitals. So kann sich das Engagement in einer Bürgerinitiative als Fehlinvestition für den beruflichen Einstieg auswirken. Die Wahl konkreter, nicht allein berufsspezifischer Fortbildung sind ebenso nur erste Investitionen in die eigene Ich-AG. Kreativität gehört hier unabdingbar zum Management und wird zum zentralen Mittel, den eigenen Marktwert zu steigern. Es geht darum, bei Kindern Kreativität zu fördern, um sie fit zu machen für die Arbeitswelt. Erwachsene, die möglicherweise ihre Kreativität verloren oder verschüttet haben, müssen sie aktivieren, um als Arbeitnehmer und auch Privatpersonen Prozesse optimieren zu können. Kreativitätsforscher wie Joy Paul Guilford haben betont, dass eine kreative Sinnproduktion im Kindesalter ausgeprägt ist, mit dem Einüben von wissensbezogenen und rein logischen Problemlösungsstrategien aber zunehmend verkümmert. Kreative Denkprozesse können aber auch gezielt gefördert und beschleunigt werden. Ziel dieser Steigerung oder (Wieder-)Erweckung ist zumeist aber der wertschöpfende Mensch im wirtschaftlichen Sinne. Es geht nicht um den homo ludens, den homo socialis, sondern allein um den homo oeconomicus, der die Kreativität nutzen soll. Auch die Kunst, üblicherweise Heimat des Kreativen, wird als Markt definiert und bestimmt. Der Begriff der „Kultur- und Kreativwirtschaft“ hat längst Einzug gehalten in die Fachsprache der Wirtschaft, die immer mehr andere Bereiche wie Politik und Wissenschaft durchdringt. Intellektuelle werden zu Kulturdesignern und Kreativitätstechnikern.

Kreativität, so das bereits hier formulierte leidenschaftliche Plädoyer, ist dringend nötig und kann der Motor zu einer Veränderung der eigenen Lebensgestaltung, aber vor allem auch zur Humanisierung der Gesellschaft und der Welt sein. Aber dann muss sie einem anderen Zweck untergeordnet werden. Die Herausforderung dieser Zeit ist zweifellos, über Alternativen nachzudenken, die zu einer Vermenschlichung dieser Welt führt. Albert Einstein hat zurecht gesagt, „mit dem Denken, das unsere Probleme geschaffen hat, werden wir sie nicht lösen“. Aber genau vor diesem Dilemma stehen wir, und Kreativität kann der Schlüssel sein, was hier essayistisch ausgeführt werden soll. In einem ersten Schritt soll noch etwas beim Begriff verweilt werden, um Kreativität als Gestaltungswillen zu verstehen. In einem zweiten Schritt werden globale Herausforderungen beschrieben und in einem dritten, abschließenden Punkt geht es um die Schwierigkeit zur Umsetzung in einer „überforderten Gesellschaft“.

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