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Organisations- und Sozialstrukturen
ОглавлениеHinsichtlich ihrer Organisationsform stellt die katholische Kirche einen Sonderfall dar: Zumindest dem Anspruch nach ist sie weltweit hierarchisch auf eine Person, den Papst in Rom, ausgerichtet. Allerdings gibt es auf allen Hierarchieebenen auch kollegiale Elemente. In der Weltkirche stehen die Kollegialität der Bischöfe und der Primatsanspruch des Papstes seit jeher in einem Spannungsverhältnis.54 Die Kleriker eines Dekanats mussten sich seit dem Konzil von Trient wöchentlich zu Landkapitelskonferenzen treffen. Diese konnten, wie etwa durch Ignaz Heinrich von Wessenberg in Konstanz, zu einem verpflichtenden Instrument einer dritten, praxisbegleitenden Ausbildungsphase umfunktioniert werden.55 In Frankreich – und möglicherweise auch anderswo – entwickelten sie sich hingegen am Vorabend der Revolution zu politischen Veranstaltungen, auf denen der niedere Klerus gegen die Ausbeutung durch die adeligen Bischöfe protestierte.56
Katholische und orthodoxe Pfarrer mussten sich mit der Konkurrenz von Ordensklerikern auseinandersetzen, namentlich der Jesuiten und Kapuziner. Diese haben im evangelischen Bereich keine Entsprechung, und auch die lutherischen Frauenstifte sind nur bedingt mit den katholischen Frauenorden zu vergleichen, die eine „weibliche Geistlichkeit“ vertreten.57 Hier wäre auch nach den Verbindungen von konfessioneller und geschlechtlicher Identität zu fragen. Die Prägung von Katholiken durch Ordensschwestern, die vor allem im 19. Jahrhundert als Kindergärtnerinnen, Krankenschwestern und Schul- und Handarbeitslehrerinnen in fast jedem Dorf präsent waren, dürfte nicht weniger bedeutend gewesen sein als die durch priesterliche Sakramentenspendung und Predigt.58 Frauen konnten in der katholischen Konfessionalisierung trotz ihres Ausschlusses vom Priesteramt de facto auch eine kirchliche Karriere machen, zum Beispiel als Fürstäbtissin.59 Die Strukturen der adeligen Reichskirche boten dazu besondere Möglichkeiten. Welche „Klerikalisierungen von Frauen“ waren in anderen Konfessionen, Regionen und Zeiten denkbar?
Entscheidend ist aber auch die Frage, inwieweit die Laien in die Hierarchie der religiösen Eliten eingebunden wurden. Im deutschen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts gab es recht unterschiedliche Modelle: Dem „Verbandskatholizismus“ mit einer starken Eigenverantwortung der Laien stand die von mehreren Päpsten vorangetriebene Katholische Aktion entgegen, deren Programm eine stärkere Unterordnung der Laien unter den Klerus vorsah.60 Ob es insbesondere nach 1945 tatsächlich zunächst zu einer verstärkten „Verkirchlichung“61 des deutschen Katholizismus kam, diese Entwicklungen in anderen Religionsgemeinschaften und Staaten ihre Entsprechungen hatten und in längerfristige Prozesse einzuordnen sind, wäre hingegen eingehend zu diskutieren.
Eine besondere Herausforderung für die Ordnung von Religionsgemeinschaften stellen freiwillige und erzwungene Migrationen dar.62 Allgemein ist die Begegnung mit „den anderen“ entscheidend für die Schärfung der eigenen Identität.63 Zu untersuchen wäre unter anderem, wie religiöse Funktionsträger den Zusammenhalt ihrer Gemeinschaft sicherstellten und welche Rolle die Abgrenzung von anderen und Feindbilder dabei spielten – etwa in Abhängigkeit davon, ob die jeweilige Gemeinschaft gesellschaftlich die Mehrheit bildete oder in der Diaspora lebte. Olaf Blaschke behauptet beispielsweise mit Blick auf den katholischen Priester im deutschen Kaiserreich: „Für die Sicherung seines sozialen und deutungskulturellen Führungsanspruchs im Milieu war es funktional, eine feindliche soziale Macht, das Judentum, und eine vage fremde Geltungsmacht, die Verjudung, zu konstruieren.“64
Allgemein ist zu fragen, wie Religionsgemeinschaften organisiert waren, welche Hierarchien es gab und wie Entscheidungsprozesse abliefen. Möglicherweise könnte ein Vergleich erste Hinweise darauf geben, inwieweit institutionelle Strukturen für die Durchsetzung von Normen und Interessen innerhalb und außerhalb der jeweiligen Religionsgemeinschaft entscheidend waren und welchen Einfluss sie damit auf die Formierung der jeweiligen Milieus, aber auch ganzer Gesellschaften hatten. Die „Pastoralmacht“65 des katholischen Klerus blieb jedenfalls in einigen Teilen Deutschlands bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein ungebrochen, erst für die Zeit danach ist ein tiefgehender Einbruch, ein Ende des „Sozialisationsmonopols“66 in religiösen Angelegenheiten festzustellen. Diese Entwicklung in Westdeutschland ist aber nicht zu verallgemeinern und alternativ auch als Transformation67 oder Neuformierung des Religiösen68 zu beschreiben. Grundsätzlich ist das Säkularisierungsparadigma durch die „Wiederkehr der Religion“69 zumindest in seiner schlichten Form obsolet geworden.70 Religion scheint bis auf weiteres ein entscheidender Faktor der weltweiten Politik zu bleiben.