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CITOYENNETÉ
ОглавлениеDie Auslandschweizerinnen und -schweizer sind oftmals Ausländer in den Ländern, in denen sie leben. Viele haben sich aber auch dort einbürgern lassen, besitzen zwei oder mehr Pässe. Die Gründe für die eine oder andere Entscheidung sind vielfältig, aber in aller Regel sehr pragmatisch. Ein zweiter Pass ist hilfreich, unterstützt meine Karriere, lässt mich am Leben am neuen Ort besser teilhaben, wird etwa gesagt. Der zweite Pass hat wenig Einfluss auf das Verhältnis zum Herkunftsland. Diesem verdankt man etwas, diesem bleibt man verbunden – und sei es nur als möglicher Rückzugsort, wenn sonst alles schiefgehen sollte.
Ganz selbstverständlich nehmen die Auslandschweizerinnen und -schweizer aber auch am politischen und gesellschaftlichen Leben im neuen Land teil, die einen aktiver, die anderen weniger, wie das auch bei den Schweizern im eigenen Land der Fall ist. In den meisten Fällen erhalten sie das neue Bürgerrecht sehr viel schneller im Vergleich zu Ausländern in der Schweiz, und sie finden das gerechtfertigt; nach einigen Jahren Leben vor Ort gehöre man dazu, argumentieren sie.
Die Auslandschweizerinnen und -schweizer sind ein gutes Beispiel dafür, welche Bedeutung politische Rechte für Migrantinnen und Migranten haben können. Man wandert ja nicht aus, um anderswo abseitszustehen, sondern um sich dort ein neues Leben aufzubauen. Zu diesem Leben gehört eine gesellschaftliche Teilhabe, die aus vielen Facetten, auch einer politischen, besteht. Im Französischen gibt es einen schönen Ausdruck für diese Art von Teilhabe: «citoyenneté». Ein «citoyen» ist nicht einfach jemand, der zufällig und ohne sein Zutun Bürger eines Landes ist, sondern jemand, der sich kümmert. Die Gesellschaft und der Staat werden nach dieser Sicht getragen von den «citoyens» und «citoyennes», die mit ihrer Haltung und ihrem Engagement die Gesellschaft und den Staat erst ausmachen. «Citoyenneté» ist eine Form der Partizipation, die nicht an einen besonderen legalen Status gebunden sein muss; vielmehr soll jeder und jede im Rahmen der Legalität das Spektrum der Rechte und Handlungsmöglichkeiten in Anspruch nehmen. Diese stark von der französischen Aufklärung geprägte Sicht ist in der Westschweiz stärker verankert als in der Deutschschweiz, die eher in der deutschen Tradition der kulturellen Zugehörigkeit steht.
Die Auslandschweizerinnen und -schweizer sind häufig «citoyens» und «citoyennes», und zwar von zwei Staaten. Sie kümmern sich nach wie vor um die Belange ihres Herkunftslands – was Bundesräte in entsprechenden Feiern auch gerne positiv herausstreichen –, setzen sich aber auch für die Belange in ihrer neuen Heimat ein. Kann man sich in und für zwei Staaten und Gesellschaften engagieren? Man kann, wie viele Beispiele zeigen. Bei manchen Menschen ist gerade das Erfahren dieser Vielfalt Ausgangspunkt einer intensiven Auseinandersetzung mit der Gesellschaft. Der «citoyen» und die «citoyenne», die um die Möglichkeiten der Welt wissen, wissen auch, wie sehr es auf jeden Einzelnen ankommt.
Sehen wir uns einmal die Entwicklungen dieser Vielfalt hierzulande anhand von ein paar Fakten an:
– Der Anteil der Ausländerinnen und Ausländer nimmt zu, gegenwärtig liegt er bei einem Viertel der Bevölkerung.
– Die Verflechtung auf allen Ebenen – Wirtschaft, Technik, Kultur, Kommunikation – ist enorm. Konzernchefs wie auch Arbeitskräfte werden global rekrutiert und eingesetzt. Die Bindung der Wirtschaft an den Nationalstaat ist bisweilen kaum mehr vorhanden. Der Unterschied zum Zustand noch vor einer Generation, der von einer engen Verflechtung dieser Ebenen geprägt war, ist enorm. Die globale Verflechtung führt offenbar zur Entflechtung der einzelnen gesellschaftlichen Ebenen.
– Fast die Hälfte der Eheschliessungen ist binational, bald sind in jedem zweiten Haushalt zwei oder mehr Pässe vorhanden.
Generell ist eine Transnationalisierung des Lebensstils festzustellen, eine Verbundenheit mit zwei und mehr Ländern, aus denen Teile der Familie stammen, mit denen man soziale oder wirtschaftliche Beziehungen pflegt, in denen man sich kulturell verankert fühlt. Die Menschen werden «multilokal» oder «ortspolygam», bauen sich soziale Netze auf, die sich über die Staaten hinweg aufspannen.2 In der Regel dominiert daher auch ein pragmatisches Verhältnis zu Staatsbürgerschaften.
Doppelte Staatsbürgerschaften erfahren durch diese Entwicklung politisch zunehmend Anerkennung. Lange Zeit war der Widerstand dagegen heftig. Vor allem Auswanderungsländer fördern aber inzwischen die doppelte Staatsbürgerschaft, weil sie befürchten, sonst die Verbindung zu ihren ausgewanderten Bürgerinnen und Bürgern zu verlieren. Immer intensiver pflegen sie die Beziehungen zu ihren Auswanderern, gründen sogar eigene Ministerien. In diversen Ländern sind Ausland-Staatsangehörige mit eigenen Sitzen in den Parlamenten vertreten. Man spricht von einer «extraterritorialen Staatsbürgerschaft». Wäre auch das Umgekehrte denkbar? Sitze für Ausländer im Parlament der Einwanderungsstaaten auf der Basis einer allgemeinen «citoyenneté»?
Globalisierung, Interdependenz und Transnationalisierung vervielfältigen also die staatlichen Zugehörigkeiten. Entsprechend müssen wir die politischen Rechte neu denken, nicht mehr bloss national ausgerichtet, sondern vernetzt: Die Menschen, die hier leben, sind immer häufiger auch Bürger oder Beteiligte anderer staatlicher Systeme, während viele Menschen mit Schweizer Pass nicht hier leben und ebenfalls Teil anderer Einheiten sind. Diese verschiedenen Systeme wirken aufeinander ein. Wenn ein Auswanderungsstaat mit viel Aufwand versucht, seine ausgewanderten Bürger an sich zu binden und ihnen Beteiligung, Schutz, auch Zugehörigkeit anbietet, wir hingegen nichts dergleichen tun: Wohin wendet sich die betroffene Person, von wem fühlt sie sich ernst genommen, identitätsmässig bestätigt? Wir beteiligen uns zunehmend an einer Art internationalem Schaulaufen, einem Schaulaufen, von dem wir annehmen können, dass wir gute Startbedingungen haben, da unser politisches System, davon sind wir überzeugt, attraktiv ist. Aber dies zu sagen, genügt nicht mehr: Wir müssen die Menschen abholen, um sie in dieses angeblich attraktive System zu integrieren.
In der Westschweiz sieht man diese Zusammenhänge deutlicher. Es ist deshalb kein Zufall, dass Westschweizer Kantone das Stimm- und Wahlrecht für Ausländer auf lokaler und einzelne sogar auf kantonaler Ebene verankert haben. Doch es geht nicht nur um das Stimm- und Wahlrecht. Ein «citoyen» ist nicht einfach eine Person, die zur Urne geht. Sie kümmert sich auf vielfältige Art und Weise um ihr Umfeld und ihre Mitwelt. Ihr politisches und gesellschaftliches Engagement fällt nicht einfach vom Himmel. Es wird ausgelöst durch Erfahrungen, angefangen bei den Diskussionen am familiären Esstisch über die staatspolitische Bildung in den Schulen bis hin zu ganz konkreten Ereignissen, die gerade bei jungen Menschen entscheidend dafür sind, ob sie sich beteiligen oder nicht. «Citoyens» müssen also geformt werden. Wir aber gehen davon aus, dass Ausländerinnen und Ausländer sich aus allen politischen Geschäften heraushalten, um sich nach zehn oder zwölf Jahren einbürgern zu lassen und ab diesem Zeitpunkt die Rolle des engagierten Bürgers zu spielen. Offensichtlich herrscht die Auffassung, das Engagement würde bei der Übergabe des roten Passes vom Himmel fallen wie die Gesetzestafeln bei Moses. Diese Vorstellung, dass man sich ein Jahrzehnt lang abstinent verhalten kann und soll, um danach voller Begeisterung politisch zu partizipieren, ist naiv. Das Engagement muss reifen wie ein Schweizer Käse. Aus einem Eunuchen wird kaum ein guter Liebhaber.