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Kein Stimmrecht – trotzdem mitstimmen JOACHIM BLATTER, CLEMENS HAUSER, SONJA WYRSCH

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Fast alle Schweizerinnen und Schweizer sind stolz auf ihre Demokratie. Und sie haben auch allen Grund dazu: Sie bietet ihren Bürgerinnen und Bürgern umfangreiche Möglichkeiten zur intensiven politischen Partizipation; vor allem aber zeichnet sie sich durch eine politische Kultur aus, die ausgesprochen problemlösungs- und konsensorientiert ist. So ist es denn kein Wunder, dass Schweizerinnen und Schweizer im internationalen Vergleich die grösste Zufriedenheit darüber äussern, wie die Demokratie in ihrem Land funktioniert. Allerdings gibt es auch eine ganze Reihe dunkler Flecken auf der weissen Weste der Schweizer Demokratie: Die massive Bevorteilung ländlich-konservativer gegenüber städtisch-progressiver Interessen durch den strukturkonservativen Föderalismus, intransparente Parteien- und Kampagnenfinanzierung und eine besonders egoistische Finanz- und Steuerpolitik, die auf Kosten anderer Länder und Völker geht.1

Die Zwiespältigkeit der Schweizer Demokratie tritt allerdings besonders deutlich bei einem Thema hervor: bei der Frage nach der In- beziehungsweise Exklusivität der Demokratie. Für viele Beobachtende erscheint die Schweizer Demokratie mit ihren direktdemokratischen Instrumenten besonders inklusiv. Denn in diesem System können ja alle Bürgerinnen und Bürger mitentscheiden, und nicht nur ein kleiner Kreis von Repräsentanten. Nicht umsonst dient die schweizerische direkte Demokratie in den Nachbarländern denjenigen Kräften als Vorbild, die sich selbst als Aussenseiter und als Stimme des – einfachen – Volkes stilisieren. Dies war in den 1980er-Jahren bei den Grünen nicht anders als heute bei der Alternative für Deutschland (AfD), dem Front National (FN) oder der United Kingdom Independence Party (UKIP). Dabei wird übersehen, dass es in der Schweiz nicht die direkte Demokratie ist, die zu einer hohen Inklusivität führt, sondern die konsensorientierte Kultur und die damit einhergehenden Strukturen der Konkordanzdemokratie.

Den meisten ist noch bewusst, dass die Schweiz bei der Einführung des Frauenstimmrechts nicht gerade eine Vorreiterrolle eingenommen hat. Dies wird aber als schrullige Besonderheit abgetan, und es wird nicht erkannt, dass der besonders lange Ausschluss von 50 Prozent der einheimischen erwachsenen Bevölkerung der direkten Demokratie zu verdanken war. Es brauchte den Druck von aussen, bis die Mehrheit der Schweizer Männer 1971 nach mehrmalig gescheiterten Anläufen bereit war, die Frauen mitbestimmen zu lassen. Dort, wo die Demokratie besonders «direkt» war und ist – in der Appenzeller Landsgemeinde –, konnte man sich sogar gar nie dazu durchringen. Hier brauchte es «fremde Richter», um den Frauen auch im letzten Stand zum Stimmrecht zu verhelfen.

Die Schweiz ist auch heute noch meilenweit von einem universellen Wahl- und Stimmrecht für die gesamte erwachsene Wohnbevölkerung entfernt. Da das Stimmrecht – zumindest auf eidgenössischer Ebene und in den meisten Wahlen und Abstimmungen auf kantonaler und kommunaler Ebene – an den Bürgerstatus gebunden ist, in der Schweiz jedoch fast jede vierte Person der gesamten Wohnbevölkerung keinen Schweizer Pass besitzt, sind auch heute noch 25 Prozent aller erwachsenen Bewohnerinnen und Bewohner weitgehend von der politischen Mitbestimmung ausgeschlossen. Diese Tatsache wird im Gegensatz zu vielen anderen Aspekten der Migration in der Öffentlichkeit kaum diskutiert.

Vielleicht liegt dies ja daran, dass der Ausschluss von Migrantinnen und Migranten aus dem Stimmvolk «normal» ist? Um dies herauszufinden, starteten zwei Studierende der Universität Luzern ein Projekt: Zum einen befragten sie die normativen Demokratietheorien daraufhin, ob und wann sie eine Inklusion von Immigrantinnen und Immigranten in den «demos» verlangen. Zum anderen entwickelten sie ein Messinstrument, mit dem man die In- beziehungsweise Exklusivität der europäischen Länder in Bezug auf Migrantinnen und Migranten in umfassender und systematischer Weise vergleichen kann. Dass die Schweiz bei der Inklusion von Migrantinnen und Migranten im internationalen Vergleich keine gute Figur macht, überrascht kaum. Die Messungen des Immigrant Inclusion Index (IMIX) weisen aber noch auf weitere aufschlussreiche Aspekte hin, die wir im Folgenden beschreiben werden. Um zu zeigen, dass es durchaus Möglichkeiten gibt, dieses Demokratiedefizit abzubauen, werden wir in einem zweiten Teil Initiativen vorstellen, die in anderen Ländern Europas und vor allem in Deutschland bereits umgesetzt wurden. Dies in der Hoffnung, damit positive Impulse zu geben und die unbefriedigende Situation in der Schweiz und in anderen Ländern zu ändern.

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