Читать книгу Religion und Bildung in Kirche und Gesellschaft - Группа авторов - Страница 28
Die Wartburger Reformatorin Elisabeth
ОглавлениеVon der Heiligen Elisabeth war die Rede. (vgl. Fuchs 2009) Warum als Reformatorin der Diakonie? Der Historiker Otto Gerhard Oexle schreibt zu diesem neuen Typus: „Der Vorwurf […] der Geistesgestörtheit, dem Elisabeth sich ausgesetzt sah, weist darauf hin, dass sie einem neuen Typus exemplarischen Lebens zuzuordnen ist, der erst um 1200 in Erscheinung trat und auch erst zu diesem Zeitpunkt in Erscheinung treten konnte: es ist jener Mensch, der sich aus religiösen Gründen zum ‚Idioten’ (Idiota) macht, wobei in diesem Wort sowohl die Unwissenheit und der Verzicht auf geistiges sich Geltendmachen gemeint ist als auch überhaupt der Verzicht auf gesellschaftlichen Rang“ (Oexele 1993, 80f).
Elisabeth von Thüringen (1207-1231) ist eine Heilige, nicht, weil die anderen Gläubigen Unheilige wären, sondern weil sie es mit ihrer Heiligkeit auf die Spitze getrieben hat.2 Sie ist ein Extremfall christlicher Existenz: „sie ist die Übertreibung des Menschen Elisabeth, ist Elisabeth im Extrem, ausgeschöpft und gewagt bis in ihre letzten Wesensmöglichkeiten“. Die Heilige ist sozusagen „die höchste Steigerung des Menschen Elisabeth“ (Coudenhove 71933, 5). Während die im entlastenden Sinn des Wortes mittelmäßige, jedenfalls nicht sehr auffällige christliche Existenz die schärferen biblischen Sätze mit dem Satz „Gott verlangt das doch nicht!“ in die eigene Situation hinein holt und darin entschärft, lebt Elisabeth christliches Leben in einer Überspanntheit, die weit über verpflichtende Normen hinausgeht und auch nie als allgemeingültige Norm eingefordert werden kann. (vgl. Coudenhove 71933, Gespräch 55)
Elisabeths diesbezügliche Verrücktheit, möglichst viel, zuweilen alles zu schenken, die eigenen Häuser und Betten zu öffnen für die Kranken und Aussätzigen, wird von ihrer Umgebung als Insanitas wahrgenommen. Nur ihr eigener Gatte scheint sie mit einer staunenden Bewunderung ihren Weg gehen zu lassen und sie nicht allzu sehr darin begrenzen zu wollen. Aber dann schon nach seinem Tod Landgraf Heinrich Raspe, der sie in die normale Witwenschaft und neue Heirat hineinordnen will, und vor allem ihr dunkler Schatten, dieser Konrad von Marburg, der hinsichtlich der Elisabeth gegenüber die gesunde Vernunft vertritt und diese mit den damals erprobten Regeln von Bußen und Strafen erzwingen will.3 Doch wird sie nicht krank durch Konrads Brutalität, sondern genau dadurch, dass ihr Konrad befiehlt, die zärtlichen Dienste an den Kranken zu lassen: „wie ein Mensch zusammenbrechen mag, der seine Liebsten vor seinen Augen in Schmerzen sieht und darf sie nicht pflegen und trösten“ (Coudenhove 71933, Gespräch 83).
Konrad will, dass sie sich nicht ansteckt, Konrad will, dass sie ihr Vermögen behält, um dauerhaft geben zu können; ihr spiritueller Lehrer kann nicht spirituell verstehen, was bei Elisabeth eine diesbezüglich rücksichtsvolle Verschwendung4 ausmacht: mit vollen Händen zu geben, im Bewusstsein, ja sicher in der Einbildung unerschöpflicher Fülle. Und dies nicht aus Pflicht, die von außen auferlegt wäre, sondern aus einer viel tiefer liegenden Dynamik heraus. Unheimlich ist diese treibende Kraft, die sich solcher die Mittel dosierenden Verteilung der Selbsthingabe entgegenstellt. Konrad jagte ihr gute Vorsätze gegen die unbegrenzte Verschwendung ein, und Elisabeth hat sie immer wieder gebrochen. Ihr Drang zur leiblichen Barmherzigkeit, oder besser zur barmherzigen Leiblichkeit (im Sinne der Leibsorge für die Anderen, aber auch der Leibhingabe von sich her) war stärker. Und sie hat Freude daran, wo immer sie die Vernunftgebote unterlaufen oder übertreten konnte.
Eine Nächstenliebe über die Liebe hinaus, die vital (in Freundschaft, in der Liebe, Kindern gegenüber usw.) geschenkt ist, ist etwas „so Schweres und so gar nicht Selbstverständliches, dass sehr viele nie über klägliche Versuche hinauskommen“ (Coudenhove 71933, Gespräch 76). Und so ist es dann ein Stück der Selbstzucht, der Askese, auch der Pflichterfüllung, über die geschenkte Liebe hinaus Liebe zu geben, gütig zu sein, wo sich diese Güte nicht vital einstellt, Hilfe und Gerechtigkeit nicht von der Empathiefähigkeit abhängig zu machen, so wichtig diese bleibt. Woher gewinnt Elisabeth die Empathiefähigkeit zu einer Liebe völlig fremden bedrängten Menschen gegenüber, als wäre in ihnen ihr eigener Gatte und ihre eigenen Kinder gegenwärtig?
Elisabeth ist fähig zu einer vitalen erotischen und heißen Liebe. Die Geschichten, die ihre Beziehung zu ihrem Mann betreffen, machen dies sehr deutlich. Es ist eine sinnliche, bis in die leibliche Zärtlichkeit hineingehende Liebe. (vgl. Coudenhove 71933, Gespräch 16) Eine kleine Erzählung macht aber schon die Spannung und die Transformationsfähigkeit genau dieser Liebe deutlich: „Wie einst ihr Blick während der hl. Messe auf den festlich geschmückten Gatten fällt und sie lässt sich so innig in die Schönheit und Süße des geliebten Anblicks versinken, dass sie ganz auf das hl. Opfer vergisst […] Wie sie aber vom Glockenzeichen aufgeschreckt den Blick wieder zum Altar wendet, sieht sie die Hostie bluten […] Und es heißt, dass sie lang und wie trostlos über dieses Zeichen geweint hat und Ludwig sie kaum zu beruhigen vermochte“ (Coudenhove 71933, Gespräch 18). Die Alternativen, die hier eröffnet werden, sind nicht die Alternative zwischen Böse und Gut. Denn niemals käme ihr in den Sinn, ihre Liebe zu Ludwig als etwas Böses anzusehen. Es ist vielmehr die Alternative zwischen dem kleinen und dem höchsten Gut. Es „ist nicht der Kampf zwischen Licht und Finsternis, sondern zwischen dem Lichtlein und der Sonne, nicht zwischen Natur und Verderbtheit, sondern zwischen Natur und Übernatur, nicht zwischen Mensch und Teufel, sondern zwischen Mensch und Gott“ (Coudenhove 71933, Gespräch 20).
Diese Transformation beginnt nicht erst mit dem Tod Ludwigs, sondern bereits parallel mit dieser Liebe. So legt sie, als Ludwig auf einem seiner Waffengänge weg ist, einen Aussätzigen in das Bett ihres Gatten, berührt und pflegt ihn. Hier verdichtet sich genau dieser Zusammenhang: in das gleiche Bett, wo sie die Liebe mit ihrem Gatten lebt, legt sie den Aussätzigen und zeigt darin, dass zwar mit anderer, aber mit gleicher Liebesintensität dieser im Mittelpunkt ihrer leiblichen Hingabe steht. Alban Stolz erzählt die Legende so, dass der heimkehrende Landgraf, als er den Vorhang vom Bett zurückzieht, tatsächlich den Gekreuzigten in seinem Bett sieht. Im Wunder kommt der geglaubte „Hintergrund“ zum Vorschein. (vgl. Stolz 1923, 69) Nicht Unwertes wird hier also geopfert, und es wird nicht unlustig und ohne Freude geopfert, sondern aus Liebe. Sie stellt die herrschende Askese vom Kopf auf die Füße: sie schenkt nicht, um sich weh zu tun, sondern sie schenkt, um die anderen zu beglücken, „und der Schmerz, der nicht ausbleibt, ist […] höchstens der Preis des köstlichen Schenkendürfens, um den sie nicht feilscht und jammert und auf den sie auch nicht stolz ist“ (Coudenhove 71933, Gespräch 50).
Der Tod ihres Gatten ist für sie fast unüberwindbar. Gleichwohl hat sie schon mit ihm die Zeit danach vorbereitet. Denn jetzt schreitet sie stufenweise in jene leibliche und insgesamt überschwängliche Liebe hinein, die allen Leidenden gilt. Selbstverständlich ekelt auch sie sich vor den Geschwüren der Kranken, aber sie berührt sie, sie pflegt sie, die Legende sagt sogar, dass sie sie küsst. Ob hier das entsprechende Erzählschema von Franz von Assisi gestaltgebend ist, oder ob dahinter tatsächliches Handeln steht, muss nicht ausgemacht werden. Nun endgültig getrennt von ihrem Gatten, trennt sie sich auch von den Kindern, was allerdings im damaligen Kontext nicht gerade jene Herzlosigkeit sein muss, die wir heute damit verbinden mögen. (vgl. Maresch 1932, 158f) Kinder, die in der feudalen Herrschaftsklasse aufwuchsen, wurden einer Amme und anderen zur Erziehung übergeben.
Doch zeigt sich insgesamt in solchen nicht von ungefähr nochmals unterstrichenen Bemerkungen dieses Zusammenhangs der Hintergrund einer Transformation, die wohl folgendermaßen gelesen werden darf: Elisabeth tut wirklich etwas, was wörtlich von Jesus gesagt wurde, nämlich um seinetwillen die Eigenen zu verlassen (was ja normalerweise „nicht ernst gemeint sein kann“). Sie aber übersetzt diesen Satz Jesu eins zu eins in ihr Leben hinein. Und dies auch nicht nur auf dem Hintergrund des Vorbildes Jesu, sondern in einer intensiven Beziehung mit ihm. Sie umarmt den Schmerz der anderen, weil Christus ihn gelitten hat. (vgl. Coudenhove 71933, Gespräch 68)
Sie will sein armes und gehetztes Wanderleben miterleben, in seliger Weise bei ihm sein und mit ihm sein. (vgl. Coudenhove 71933, Gespräch 69f)
Die körperliche Liebkosung gilt nun nicht mehr dem schönen Leib ihres Gatten, sondern dem geschundenen Leib des fremden Leidenden. Die Erotik bekommt ein negatives Vorzeichen: wenn darunter körperliche Anziehungskraft zu verstehen ist, dann gewinnt nun der verfallende Köper eine geradezu vitale Anziehungskraft für Elisabeth. Alban Stolz scheint in seiner eindrucksvollen Biographie der heiligen Elisabeth diese liebkosende Leiblichkeit am ekelhaften Körper nicht aushalten zu können, indem er schreibt: „Desgleichen ging auch Elisabeth, gleichsam als wäre sie nur noch eine Seele ohne Fleisch und Blut, zu den abscheulichsten Kranken und berührte sie ohne Scheu, wie man ein hübsches Kind berührt“ (Stolz 1923, 68). Der Autor muss offensichtlich den Leib erst vergeistigen, bevor er zu so etwas fähig wird.
Diese leibliche Spiritualität entspricht der Wirklichkeit aus Mt 25,40: „Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“. Diesen Satz hat sie durch und durch substantiell, real präsentisch verstanden: in jedem Leidenden, in jedem Aussätzigen, in jedem Armen begegnet sie in der Tat Christus leiblich. Hier wird nicht etwa der Mensch geliebt, um Gott zu gefallen, sondern beides fällt ineinander. Gott wird im Anderen geliebt. Die Menschenliebe wird also nicht für die Gottesliebe instrumentalisiert, in einer Entwertung der menschlichen Person, in einem „Herabsinken zur zufälligen Begleiterscheinung des Dienstes an Gott“ (Coudenhove 71933, Gespräch 80).
Coudenhove hat hier ein schönes Bild: nämlich wenn ein Freund einen anderen Freund schickt, der ihm lieb ist, um bei seinem Schützling ihn selbst zu vertreten. Wenn also dem Fernen die eigenen Hände geliehen werden. „So steht die Heilige zu allen Menschen, die ihr von Gott ans Herz gelegt sind, und dass sie seine Liebe an ihnen vertrete: ‚Liebet einander, wie ich Euch geliebt habe.’ Wie Du den Freund im Namen des Freundes, zu dem Ihr beide gehört, mit offenem Herzen und voll Vertrauen empfängst, voll froher Spannung auf die Botschaft dessen, von dem er kommt, so nimmt sie jeden auf, ‚im Namen Gottes’: sieh, wie das kühle Wort lebendig wird! – sie sieht die Menschen nicht mehr von außen, wie wir; was uns so selten geschenkt wird, in der Gnade der Freundschaft: eines Menschen Bild von Gott her zu sehen, den Namen zu hören, mit dem Gott ihn ruft: das ist ihr wunderbares Geheimnis. Sie sieht wahrhaftig durch die Augen Gottes, oder Gott sieht durch ihre Augen […] und es gibt keinen Fremden und Fernen mehr, denn Gott sieht keinen fremd und fern. Es gibt nur mehr den Nächsten und er ist wahrhaftig: der Nächste, und der erste beste ist wirklich der erste und beste“ (Coudenhove 71933, Gespräch 81f).
Elisabeth zeigt sich in ihrer Liebe durch ihr ganzes kurzes Leben hindurch immer ganz, immer körpernah und immer mit einem Hauch an Unendlichkeit, die diese Dynamik niemals abschließen kann. Eigentlich stellt sich hier nicht Liebe gegen Liebe, etwa Armenliebe gegen die Gattenliebe und Kinderliebe. Sondern diese vitalen Bereiche der Liebe „erster Ordnung“ werden zum Erfahrungsort, um die gleiche Vitalität und Unendlichkeit auch in die Liebe „zweiter Ordnung“ den Kranken und Armen gegenüber zu übertragen, ohne dabei an Vitalität zu verlieren. Es ist die gleiche Quelle.
Noch etwas anderes Entscheidendes fällt bei Elisabeth auf: nämlich ihre unmittelbare Fähigkeit zur Doxologie, zum Lob Gottes, zum Tedeum: und zwar aus unserer Perspektive geradezu kontrafaktisch zu dem, was sie erlebt, zum Beispiel in der Nacht der Vertreibung von der Wartburg.5 In den Quellen wird es spürbar: wie sie fast in kindlicher Weise sich darüber freut, denen ein Schnippchen geschlagen zu haben, die ihre Armen- und Krankenliebe auf ein gesundes Mittelmaß reduzieren wollen.
Immer wieder ist in den Quellen von Jubel und Freude die Rede, aber auch mit gleicher Tiefe von uferlosem Schmerz vor allem bei der Todesbotschaft ihres Gatten. Aber selbst da kann sie den Willen des Vaters preisen: „Herr, Du weißt es wohl: könnte es mit Deinem heiligen göttlichen Willen geschehen, so wäre mir sein Leben und seine liebliche fröhliche Gegenwart und sein Angesicht lieber als Freude und Ehre dieser Welt, so wollte ich gerne alle Tage mit ihm betteln gehen. Aber wider Deinen Willen, liebster Herr, wollte ich ihn nicht wieder zum Leben bringen, wenn ich’s um den Preis eines Haares tun könnte“ (Coudenhove 71933, Gespräch 59-60). Das ist es, was in ihr aufscheint: nämlich Gott größer sein zu lassen als das eigene Elend (vgl. Fuchs 2008b), und dabei leiblich vor Freude zu „glucksen“, wie es Franz von Assisi zu tun vermag.
Bei Elisabeth wird erfahrbar, „[d]ass die ‚Unmöglichkeit christlichen Daseins’ eben durch die vollkommene Verwirklichung christlichen Daseins bezeugt wird. […] Die Kategorien der Vernunft und die Bedingungen des gesellschaftlichen Wohlverhaltens werden brüskiert; die ‚Ordnung’ des irdischen Lebens wird ‚gefährdet’, ja sie wird belanglos unter dem Gebot einer bedingungslose Hingabe an Gott. Das Dasein der Heiligen ist zwecklos in der Welt; die beunruhigte Nach- und Mitwelt jedoch sucht es wiederum irdischen Zwecken der Belehrung, der Sinnstiftung, der Lebenshilfe und Erbauung nutzbar zu machen“ (Schneider 1997, 88).