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Die Gesellschaft als bestimmende Quartiermeisterin für die Kirche(n)
ОглавлениеDurch das Konzil lernte die Kirche, sich unter den Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens wahrzunehmen. (vgl. Gaudium et spes) Dieser Weg zeigte, dass die unübersichtliche Komplexität und überfordernde Kompliziertheit der Wirklichkeit vor den Kirchentüren nicht Halt gemacht, sondern sich in die Kirche selber ergossen hat. Eine hochdifferenzierte und individualisierte (z.T. singularisierte und damit desolidarisierende) Gesellschaft mit ihrer Macht und ihren Normen, aber auch mit ihrer Brüchigkeit und mit ihrer Brutalität sowie mit ihrer medialen Öffentlichkeit ist zur maßgeblichen Quartiermeisterin auch für die Kirche geworden. Rückzüge in kontrollierbare Reviere nützen nichts und heilen noch weniger. Wenn z.B. die Gleichstellung von Mann und Frau, Partizipatio, demokratische Entscheidungsfindung, Menschenrechte und faire Konfliktverfahren selbstverständliche Normen geworden sind, auch wenn man ihnen in der Praxis oft nicht die Ehre antut, dann schafft das unüberwindliche Spannungen zum geltenden kirchlichen Rechtssystem. Dieses kommt für viele Menschen daher mit einem tiefen Argwohn gegenüber dem freiheitsliebenden Denken und der Leiblichkeit mit der Vitalität und der Sexualität des Menschen. Zudem ist die Kirche zentralistisch übersteuert und patriarchal strukturiert. Die interne Kommunikation verläuft mit der medialen Ästhetik eines Hofzeremoniells nur von oben nach unten. Und an jedem Hof genießen Denunzianten mehr Gehör als die Denunzierten Schutz. In der Logik des Systems werden nicht zuerst pastoral und kommunikativ kompetente Leute, sondern Systemloyale mit z.T. erheblichen menschlichen Insuffizienzen in Linienpositionen berufen, wie Bischofsernennungen schmerzlich zeigen, die ganzen Bistümern den Frieden kosten.
Nun: Einen Krisenherd zu benennen, heißt nicht, ihn hämisch und selbstinszenierend zu bedienen, sondern sich ihm anzunähern, um heilende Schritte für die weitere Wegsuche auszukundschaften. Es könnte ja sein, dass in Zusammenbrüchen etwas Neues auf- und durchbrechen möchte. Auch das Rettende zeigt sich – wenn auch oft erst verborgen. Zwar wird gegen die Kritik am hierarchischen System eingewendet, man soll sich nicht dauernd auf zweitrangige äußere Probleme fixieren. Es käme doch primär auf die mystische und sakramentale Dimension der Kirche an. Letzteres ist unbestritten. Aber damit sind Anfragen an das System unserer Kirche trotzdem sinnvoll. Immerhin ist Glaubwürdigkeit keine beliebige Option. Zudem ist Kirchen- und Selbstkritik aus dem Geiste des Evangeliums heraus auch kirchliches und christliches Handeln.