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Johannes Ciudad in Granada
ОглавлениеDrei Jahre nach jenem folgenschweren Geschichtsdatum 1492 wird Johannes Ciudad Duarte (vgl. Fuchs 1994) in der portugiesischen Gemeinde Montemor-o-Novo in der Provinz Alemtejo geboren. Seine Eltern haben ein Obstgeschäft. Aus welchen Gründen auch immer: mit acht Jahren läuft er von zu Hause davon, findet eine Pflegefamilie in Oropesa in Spanien, die ihn als Findelkind „von Gott“ (wie Findlinge damals genannt wurden) aufnimmt und wo er als Schafhirte arbeitet. 1532, also mit 37 Jahren, verdingt er sich als Soldat im Feldzug Kaiser Karls V. gegen die Türken und gelangt dabei bis nach Österreich und Ungarn. Danach (1534) kommt er in das spanische Ceuta an der Küste Nordafrikas. Er arbeitet als Tagelöhner in der Bauarbeit der Festung dieser Stadt.
Später findet man Johannes als Schriftenverkäufer in Gibraltar. 1538 kommt er im Alter von 43 Jahren nach Granada. Die Legende erzählt: Dem fahrenden Buchhändler Johannes Ciudad Duarte hat eines Tages ein Kind einen Granatapfel überreicht und gesagt: „Johannes, Granada wird Dein Kreuz sein“. Granada wird für ihn zu einem gewissen beruflichen Aufstieg: hier wird er sesshaft mit einem kleinen Strassenladen, wo er Bücher und Kleinschriften verkauft. Aber er bleibt nicht bei den Drucksachen, Schriften und Buchstaben stehen. Der nächste Schritt steht noch aus.
Dort geschieht nun auch das, was später seine „radikale Umkehr“ genannt wird. Es sind diese beiden Augenblicke: Johannes kann in der Gasse, wo er wohnt, an einem dort liegenden kranken Bettler nicht mehr einfach vorübergehen; und: er hört eine Predigt des Johannes von Avila und spürt plötzlich, dass es so wie bisher mit ihm nicht weitergeht. Johannes von Avila predigt in der Märtyrerkapelle, insbesondere darüber, wie bei den Märtyrern Wort und Leben zusammenfallen und sie dadurch zum Beispiel werden.
Johannes weiß sich im Anschluss an die Predigt des Johannes von Avila zutiefst als Sünder, ja als einer, der bisher nichts anderes als Schuld auf sich geladen hat. Er ist außer sich, er weiß gar nicht, wie ihm geschieht. Er wälzt sich zu Boden, schreit, wirft seine Bücher auf die Strasse und das Geld hinterher. Gerade in diesem Zustand erfährt er von Gott jene bedingungslose Barmherzigkeit, die er später den Kranken zukommen lässt. In der Theologie des zur gleichen Zeit im nördlichen Europa wirkenden Reformators: Johannes erfährt sich als „simul peccator et justus“ (Sünder und von Gott zugleich gerechtfertigt), um im Durchgang durch die Krise den Glauben daran zu lernen, dass er jederzeit „simul justus et peccator“ ist, mit all den Implikationen der unbedingten Liebe allen Menschen gegenüber, die dieser Transzendenzerfahrung entspringen und entsprechen. Dies ist eine ausschlaggebende Scharnierstelle zwischen „vorher“ und „nachher“: die voraussetzungslose Liebe Gottes, die die Sünderin und den Sünder annimmt und für ein neues Leben freisetzt.
Johannes wird in das Jahrhundert der großen Abenteuer hineingeboren. Im letzten Jahrzehnt des fünfzehnten Jahrhunderts erfolgen die fatalen „Entdeckungen“ neuer Welten: verhängnisvoll nicht nur für die letzteren, sondern auch mit der Wirkung mannigfacher Turbulenzen für die „alte Welt“. Mit der gleichen vernichtenden Intoleranz, mit der die neuen Länder um ihr Gold und ihre Kulturen gebracht wurden, werden in der Reconquista auf der iberischen Halbinsel die Muslime und ihre Kultur zwangsintegriert oder vertrieben. 1492 fällt ihr letztes Bollwerk: Granada! Beides geschah im Namen des Glaubens: Die Conquista gegen das Heidentum und die Reconquista gegen den Islam. Signifikanterweise kommen beide Strategien in Granada zusammen, nämlich durch die Tatsache, dass Columbus in der Kathedrale von Granada bestattet wurde.
Just hier, in Granada, wo die geschichtlichen „main-streams“ bedeutsam genug zusammentreffen, wird ein demgegenüber viel kleineres, aber um so alternativeres Rinnsal entspringen, aus einer ganz anderen Quelle, nämlich aus der Quelle der Barmherzigkeit allen Menschen gegenüber, seien es die Christen oder die Muslime, aus der Liebe vor allem denen gegenüber, die krank sind und Not leiden. Eine Gegenbewegung also zu der Gewalttätigkeit und Ungerechtigkeit der geschichtlichen „Hauptströme“, die Krankheit und Not produzierten. Zwei völlig entgegengesetzte Weisen, wie der christliche Glaube „funktioniert“: als Solidaritätsmotiv für alle Menschen oder als Mordmotiv gegen die Ungläubigen, weil es doch besser sei, die Ungläubigen zum Glauben zu zwingen als sie der Hölle zu überantworten. In solcher „Höllendiakonie“ ist jede Grausamkeit erlaubt, mit den unseligsten Folgen einer Ideologie, in der die Glaubensgrenzen die Heilsgrenzen sind.
Über den Haupteingang des Torbogens, hinter dem Johannes die ersten Kranken pflegt, lautet eine Inschrift: „Das Herz befehle!“. Hier kommt zum Ausdruck, dass die unmittelbare Barmherzigkeit leidenden Menschen gegenüber der praktische und hermeneutische Ausgangsort für alle Begegnungen und Verstehensmöglichkeiten darstellt. (vgl. Lk 7,13) Dass das Herz befiehlt, meint hier keinen entfremdenden Befehl von außen, sondern benutzt diesen gesetzlichen Begriff des Befehlens und pflanzt ihn in die ungesetzliche Reaktion der Liebe hinein, gleichsam um in diesem sprachlichen Paradox jene Unbedingtheit und nicht mehr Wegdiskutierbarkeit, jene Urevidenz auszudrücken, die die Kraft der Barmherzigkeit in uns haben kann oder könnte, wenn sie nicht durch so viele defensive Reaktionen und Sicherheitsstrategien verschüttet wäre.
Johannes zeigt deutlich: Wer einmal diese unmittelbare Kraft der Barmherzigkeit in seinem Innersten entdeckt hat und zum Leben hat kommen lassen, der kann nicht mehr anders, als dementsprechend das Handeln und Denken zu gestalten. Ein anderes Wort des Heiligen bringt die Verbindung eines solchen Herzens mit Christus: „Ich vertraue allein auf Jesus Christus, denn er kennt mein Herz“. Walter Nigg schreibt einfühlsam: „das Herz bildet den ersten Personenkern; es ist das wahre Selbst und es ist das Organ, das Gott spürt“ (Nigg 1985, 29). In diesem Zentrum seiner selbst lässt sich Johannes vom Leiden Christi und vom Leid der Menschen „stigmatisieren“.6
Im Bekehrungsprozess erfährt Johannes hautnah die Leiden einer anderen Menschengruppe: die der psychisch Kranken. Die Umkehr kann für Johannes nicht gründlicher und krisenhafter sein. Nicht von ungefähr verwenden manche Biographen das Bild des pfingstlichen Feuers, eines wilden Feuers, das ihn „bis ins Innerste durchglüht, gehämmert, und neu geformt“ hat.7 Die Unruhe seines bisherigen Lebens, die immer wieder neue Abenteuer gesucht hat, bricht nun geballt aus ihn heraus und zerbricht ihn gleichzeitig. In dieser Situation des Irr-Sinnes ist Johannes allein, unverstanden und isoliert, wie er auch später zumindest anfangs in der Verwirklichung seines neuen Sinnes allein sein wird.
Die Leute von Granada reagieren entsprechend, nicht bösartig, sondern eben, wie sie es gewohnt sind bei solchen Tobsüchtigen. Sie bringen ihn in das königliche Spital und dort in die Abteilung für die Geisteskranken. Dadurch wird er vor sich selber, aber auch vor dem Pöbel beschützt, der ihn verschimpft und verlacht.
Johannes kommt in direkten Kontakt mit denen, für die er später da sein wird, aber zuerst einmal als Mitbetroffener selbst. Und er erfährt am eigenen Leib, wie mit Geisteskranken umgegangen wird: in großen Räumen zusammengepfercht, ohne Rücksicht auf die Verschiedenheit der Krankheiten, in Akutzuständen gefesselt und in Zellen gesperrt, geschlagen, mit Schreckensbildern, Teufelsaustreibungen und Ketten traktiert. (vgl. Cruset 1967, 111) Trotzdem: Johannes kommt in dieser traurigen Umgebung zur Ruhe, es geht im allmählich besser und es wird ihm gestattet, sich frei zu bewegen und bei der Pflege und bei den Arbeiten im Hause mitzuhelfen. In dieser Zeit des direkten Zusammenlebens und Umgangs mit unterschiedlichen kranken Menschen klärt sich bei ihm sein künftiges Leben.
Am Ende findet seine tiefe Krise eine ganz einfache Lösung: den Kranken und den Armseligsten zu helfen und sie zu pflegen. Er weiß, dass er diesbezüglich von den Reichen und Mächtigen abhängig ist. Er braucht ihre Almosen. Beides also nimmt er in die Hand: das Betteln für seine Kranken und ihre Pflege. „Die neue und rettende Tat des Johannes von Gott bestand darin, dass er seine Krankenpflege auf dem Prinzip des Bettelordens aufbaute.“ (Nigg 1985, 36) Nicht von ungefähr verstand sich Johannes von daher selbst als ein Tertiar des Franziskanerordens. Das ursprüngliche Ordenswappen zeigte denn auch die Utensilien eines Sammelbruders (Reisestab, Tasche und Sammelbüchse): das Signet für die von Anfang an realistische und offensive Einstellung, dass man sich bei den Reichen holen muss, was man für die Bedürftigen braucht.
Eine beträchtliche Zeit ist Johannes ziemlich alleine mit dieser Doppeltätigkeit des Bittens und des Pflegens. Bereits 1539 kann Johannes ein Haus anmieten und dort sein erstes Hospital einrichten. Zunehmend finden sich Männer ein, die bei der Krankenpflege mithelfen. Dann gesellen sich erste Jünger zu ihm, die wie er und zusammen mit ihm insgesamt ein solches Leben in der Nachfolge Jesu auf sich nehmen möchten. Erst als es mehrere solcher „Gruppen“ auch in anderen Städten Spaniens und darüber hinaus gab, wuchs das Bedürfnis einer überregionalen innerkirchlichen Anerkennung. 1571 wurden sie vom Papst als Kongregation autorisiert und der Regel des Hl. Augustinus unterstellt. Papst Sixtus V. erhob diese Kongregation dann 1586 in den Rang eines Ordens: der „Barmherzigen Brüder“.
Johannes sucht eine anspruchsvolle Spiritualität: „Dienen wir dem Herrn nicht wegen der Glorie, die er denen gegeben wird, die ihm gedient haben, sondern einzig wegen seiner Liebe zu uns“. Hier kommt zum Ausdruck, was er offensichtlich in seiner Bekehrung zutiefst begriffen hat. Die Begegnung mit Gott und auch mit Menschen kann nicht durch ein „wenn und aber“ verdinglicht werden, sondern hat ihre Authentizität gerade darin, dass sich die Beteiligten unverstellt und unmittelbar annehmen. Johannes begegnet Gott, insofern er sich (als Sünder!) von ihm unbedingt geliebt weiß (da wird die Frage unsinnig, was er „dafür bekommt“). Und: Johannes ist mit der gleichen Unbedingtheit auf der Seite der Armen und Kranken; ohne „wenn und aber“ geht es um die heilende und teilende Begegnung mit diesen Menschen. Es zeigt sich deutlich, wie sehr Gottes- und Nächstenliebe zusammenhängen.
Johannes lebte von einer unmittelbaren und konkreten Christusfrömmigkeit her, in der Glaube und Handeln sich zu einer untrennbaren Einheit verbanden. Denn er glaubte an jenen Jesus, der in den Geschichten der Evangelien den Armen und Kranken begegnet ist und sie leiblich und seelisch heilte. Diesem Jesus will er „stets gefallen und dienen“. Dieses Wort von ihm eröffnet aber zugleich die andere dementsprechende Seite seiner Jesusfrömmigkeit: er dient Jesus nicht nur indirekt dadurch, dass er seinem Vorbild nachahmt, sondern direkt darin, dass er ihm unmittelbar in den Armen und Kranken begegnet. Sein einfach-praktisches Bibelverständnis erlaubt es in keiner Weise, dass er die Selbstidentifikation Jesu mit den Fremden und Kranken (in Mt 25, 35-40) nur übertragen, metaphorisch oder symbolisch verstehen könnte. Er versteht diese Identifikation Jesu mit den Leidenden durch und durch realistisch und drastisch. Anders hätte sich sein Glaube nicht in dieser unmittelbaren Weise mit der Wirklichkeit der Leidenden verbunden.
Der spirituellen Begegnung mit dem im Gottesdienst real präsenten Christus entspricht in gleichstufiger theologischer Dignität seine diakonische Realpräsenz in der Begegnung mit Leidenden. Die helfende und politische Diakonie ist nicht (nur) eine ethische Konsequenz der Christusbeziehung, sondern ihr zentraler Vollzug! Die „Option für die Armen“ ist das „Herzstück“ der Christopraxie. Die Weihe an Christus entlässt aus ihrem Zentrum heraus die Nachfolge Jesu zum Heil und zur Befreiung der Menschen.
Johannes verändert den Krankendienst selbst: Sie werden je nach ihrer Krankheit voneinander abgesondert und verteilt und nicht unterschiedslos, meist in gemeinsamen Betten zusammengelegt. Jede(r) Kranke bekommt ein eigenes Bett; peinlich wird auf Sauberkeit geachtet. Johannes begründet einen neuen Umgang mit geisteskranken Menschen: Er rückt heftig ab von der Ideologie der Besessenheit und entdeckt darin eine Krankheit des Gemütes und des Kopfes. Seine Behandlung kommt aus der Haltung der Barmherzigkeit, insbesondere das liebevolle Gespräch wird zum Medium seiner Therapie. Hermenegild Stromayer fasst die Krankenreform des Johannes folgendermaßen zusammen: „Jedem Kranken sein Bett! Getrennte Krankenstationen! […] Aufnahme aller Armen und Kranken ohne Unterschied der Religion, Nation und Rasse! Behandlung des ganzen Menschen: Leib und Seele!“ (Stromayer 1978, 18).
Weil der Mensch im Mittelpunkt steht, geht es nicht nur um eine partielle Hilfe an den Stellen, wo er Schmerzen bzw. Not leidet: vielmehr wird der ganze Mensch ernst genommen, auch und gerade mit seiner Suche nach unendlicher liebender Anerkennung. Cruset schreibt: „Er spricht mit ihnen über Gott“8. Immer geht es ihm um diesen Zusammenhang: „Heilt die Kranken und verkündet das Evangelium!“ Hier öffnet sich das Heilen zum Heil. Darin gründet die Verpflichtung des Ordens zur sozialen und apostolischen Tätigkeit.
Das Apostolat ist strikt an die soziale Tätigkeit gebunden und entfaltet sich erst auf ihrem Boden als unmissverständlicher Glaube an den Gott, der tatsächlich die Liebe ist. Johannes fragt deshalb auch nicht nach Religion und Herkunft. Sein soziales Handeln nimmt Maß an der universalen Liebe Gottes selbst. Und genau diese Tätigkeit wird zum vorzüglichen Ort, von diesem Gott zu sprechen. Bei der Beerdigung des Johannes sind auch trauernde Muslime hinter seinem Sarg mitgegangen, „weil Johannes von Gott in seiner Krankenpflege nie einen Religionsunterschied gemacht hatte“ (Nigg 1985, 36). Derart war Johannes von Gott ein Kirchenreformator ersten Ranges!