Читать книгу Entwicklungslinien des Dolmetschens im soziokulturellen Kontext - Группа авторов - Страница 5
1 Verständigung in verschiedenen Lebensrealitäten
ОглавлениеDer Ausgangspunkt für dolmetscherisches Handeln ist das Erfordernis aufseiten von Bedarfsträger:innen in verschiedenen Lebensrealitäten Verständigung zu ermöglichen, was manchmal nur unter Beiziehung von Dolmetscher:innen realisierbar ist. Derartiger „Kommunikationsbedarf“ (Pöchhacker 2000:13f.) bestand seit jeher in verschiedenen internationalen oder innergesellschaftlichen Zusammenhängen. Ein Blick auf translatorisches Handeln aus gegenwärtiger Perspektive vernachlässigt häufig die Tatsache, dass die Tätigkeit von Dolmetscher:innen eine alte ist und sich über ein weites zeitliches Kontinuum erstreckt, und dass jene Faktoren, die für Dolmetscher:innen heute maßgebende Kriterien für ihr Handeln sind, Dolmetscher:innen wohl auch schon vor Jahrtausenden beschäftigten. Abseits der Aufarbeitung dieses Feldes in der Fachliteratur belegen etwa geschichtliche Quellen die jahrhundertelange Tätigkeit von Dolmetscher:innen in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern (z.B. Woodsworth & Delisle 2012, Cáceres Würsig 2017).
Seit der innerstaatlichen Krise in Syrien, die ab 2015 Millionen Menschen zu Binnenflüchtlingen machte und darüber hinaus zu massiven Fluchtbewegungen in Richtung Europa führte, waren Dolmetscher:innen und ihr Handeln zunehmend sowohl durch Medienberichte als auch infolge persönlicher Begegnungen in Kontexten präsent, in denen dies zuvor nicht der Fall gewesen war. Im deutschsprachigen Raum waren v.a. Deutschland und Österreich mit einem plötzlich angestiegenen KommunikationsbedarfDolmetschbedarfmigrationsbedingt konfrontiert, der nicht immer ausreichend gedeckt werden konnte. Dringlichkeit und Ausmaß an Kommunikationsbedarf führten dazu, dass die Notwendigkeit des Einbezugs von Dolmetscher:innen verstärkt erkannt wurde.
Infolge dessen und zur weiteren Bewältigung dieser veränderten gesellschaftspolitischen Gesamtsituation wurden verschiedene (Ad-hoc-)Maßnahmen zur Bewältigung dieses Kommunikationsbedarfs ergriffen, u.a. die Bestellung von Dolmetscher:innen für bislang wenig benötigte Sprachkombinationen, für die auch keine Ausbildungen existieren, neue Verzeichnisse („DolmetscherlistenDolmetschliste“) und Zusammenschlüsse („PoolsDolmetschpool“) von Dolmetscher:innen, Entwicklung neuer Schulungsmaßnahmen oder die Reaktivierung bereits bestehender Qualifizierungsangebote. „Qualität“ stand dabei nicht immer im Zentrum; vielmehr wurde und wird – wie die Beiträge in diesem Band in teilweise ernüchternder Form belegen – der Dolmetschbedarf häufig unter der nach wie vor tradierten Devise „Sprachkompetenz = Dolmetschkompetenz“ gedeckt. Die aus fachlicher Sicht grundsätzlich positiv zu wertende Sichtbarmachung von Dolmetscher:innen ist also gleichzeitig teilweise negativ gekoppelt an eine gewisse Gefahr einer Institutionalisierung von „Ad-hoc-Lösungen“.
Zu beobachten war in den letzten Jahrzehnten des Weiteren ein Neuaufflammen der Diskussion um die Benennung der Tätigkeit von Dolmetscher:innen in einem derartigen innergesellschaftlichen Lebenszusammenhang, wie sie bereits Ende der 1990er-Jahre (z.B. Bahadır 2000, Pöchhacker 2000:34ff., Pöllabauer 2002) und auf ähnliche Weise noch früher in den sogenannten Pionierländern des Community InterpretingCommunity Interpreting (z.B. Roberts 1997, Gentile 1993) stattgefunden hatte. Augenscheinlich war diese Diskussion etwa im Rahmen einer Fachtagung 2018 am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) in Hamburg, die der Qualifizierung von Sprachmittler:innen in der sozialen Arbeit gewidmet war (vgl. ZwischenSprachen 2018) und in teilweise heftige Kontroversen zu den Möglichkeiten, Sinnhaftigkeiten und Widersinnigkeiten verschiedener Benennungen mündete.