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4 Translationskultur und Superdiversität

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Als Rahmen für die Darstellung dient, wie erwähnt, Prunčs Konstrukt der TranslationskulturTranslationskultur (u.a. 1997, 2008, 2017). Prunčs Überzeugung, dass Translation auch immer eine „gesellschaftssteuernde und ideologische Funktion“ (2000:20) hat, spiegelt sich in seiner Modellierung von „Translationskultur“, die definitorisch wie folgt erfasst werden kann:

[…] das historisch gewachsene System einer Kultur […], das sich auf das Handlungsfeld Translation bezieht und das aus einem Set von gesellschaftlich etablierten, gesteuerten und steuerbaren Normen, Konventionen, Erwartungshaltungen und Wertvorstellungen aller in dieser Kultur aktuell oder potentiell an Translationsprozessen beteiligten Handlungspartner besteht. (Prunč 1997:107)

TranslationskulturenTranslationskultur sind nicht ahistorisch, sondern zeitlich geprägte, gewachsene Konstrukte, die dem in einem gesellschaftlichen Rahmen vorherrschenden Wertegefüge unterliegen (Prunč 2017:33). Translator:innen sind in diesem System „selbstverantwortliche Handlungspartner“ (ibid.:111), die auch an der Aushandlung der das System steuernden Normen und Konventionen beteiligt sein können/sollten. Neben den Translator:innen werden auch die anderen Akteur:innen in die Pflicht genommen: Im Rahmen einer „demokratischen Translationskultur“ (Prunč 2017:33), in deren Zentrum das Prinzip der „Egalität“ verankert ist, sind alle Handlungsbeteiligten gleichermaßen für die Gestaltung der Rahmenbedingungen verantwortlich.

Aufgabe der Ausbildungsstätten wäre es, durch eine Verschränkung von Theorie und Praxiswissen Translator:innen auf ein „reflektiertes“ translatorisches Handeln vorzubereiten und für in diesem Feld tätige Dolmetscher:innen das nötige Kulturkapital im Sinne von Zertifizierung und Graden/Titeln bereitzustellen. Aufgabe der Translationswissenschaft wäre das analytische Aufzeigen von Interessenskonstellationen und Entwicklungspotenzialen, das Translator:innen damit die argumentative Basis für die Aushandlung der aus ihrer Sicht erforderlichen Geltungsprozesse und damit eine Optimierung des Systems erlaubt (ibid. 107; 2017:33). Dieses Zusammenspiel von Forschung und Lehre ergänzt Prunč später (2017:35) noch um die Kategorien „Öffentlichkeitsarbeit“ und „Solidarität“. Durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit kann erst symbolisches Kapitel für die Dolmetschenden generiert werden. Die Kategorie Solidarität kann als Voraussetzung für das Zusammenspiel dieser Faktoren betrachtet werden. Im Zentrum sieht Prunč (2017:35) hier den Abbau von Standesdünkeln vonseiten professioneller Dolmetscher:innen gegenüber den oft als minderwertig betrachteten Laien, der nötig erscheint, damit alle in dem Feld tätigen Akteur:innen mit Hinblick auf eine Optimierung der Handlungsbedingungen an einem Strang ziehen, da sich „Fehlleistungen negativ auf das Image de(s) gesamten Berufsstandes auswirken“ (2017:35) (s. dazu weiter unten auch das Konstrukt der „berufsständischen Solidarität“).

Als „Konstruktionsprinzipien“ (Prunč 2017:33) für eine konkrete Mitgestaltung der Translationskultur durch die Translator:innen definiert Prunč die folgenden:

 Kooperativität als kooperative Arbeitsteilung ist „ökologisch“ und „ressourcensparend“, wenn sie auf einem klar vereinbarten Handlungsrahmen basiert (2017:33).

 Loyalität umfasst die „Fähigkeit und Bereitschaft, die Interessen der Handlungspartner zur Kenntnis zu nehmen, zu reflektieren und angemessen darauf zu reagieren“ (ibid.) und impliziert eine vierfache reziproke Loyalität der Translator:innen gegenüber den 1) Autor:innen der zu übertragenden Redebeiträge, 2) den Initiator:innen der Interaktion, 3) den Adressat:innen und 4) gegenüber sich selbst in Hinblick auf persönliche ethische Werte und berufsethische Prinzipien (2017:34).

 Transparenz bedingt die Offenlegung von Handlungsrollen und die Verpflichtung, Abweichungen von bestehenden translatorischen Handlungsnormen transparent zu machen und wirkt damit vertrauensbildend.

 Ökologizität soll einen „sparsamen Umgang mit Ressourcen“ sichern (2017:34), indem translatorische Entscheidungen abhängig von den Zielvorgaben und der Translatfunktion, aber auch von Kriterien wie der „Nachhaltigkeit“, d.h. der längerfristigen Auswirkung des translatorischen Handelns, getroffen werden.

Stark verknüpft mit diesen Ausführungen ist auch die persönliche, moralische Verpflichtung von Translator:innen bei Missständen zu intervenieren:

In einem solchen ethischen Konzept strebt Translation als trialogischer Beitrag zur Enttarnung von Hegemonialisierungsstrategien, zur Konfliktminimierung, zur Wahrung der Menschenrechte und der persönlichen physischen und geistigen Integrität des Individuums sowie zur Friedenssicherung als bewusste Alternative zum Krieg der Worte […]. Das ist das Gewebe, aus dem Aschenbrödels Schuh gefertigt ist, mit dem sie sich als ebenbürtige Prinzessin neben die Prinzessin Konferenzdolmetschen stellen kann. (Prunč 2017:35)

Mit dem Konstrukt der TranslationskulturTranslationskultur lassen sich veränderte Rahmenbedingungen gut abbilden. Eine generelle Veränderung, die nicht nur Translation, sondern verschiedenste Bereiche des gegenwärtigen Lebens prägt, ist (neben den Auswirkungen der Globalisierung und wachsenden Technologisierung unserer Lebensrealität) auch die zunehmende gesellschaftliche TranskulturalitätTranskulturalität. 2007 wurde von Vertovec mit Fokus auf die damalige Situation in Großbritannien der Überbegriff „super-diversity“ eingeführt. „Super-diversity“ dient als Umschreibung für durch veränderte Migrationsprozesse (mehr und unterschiedliche Ethnien, Sprachen, Religionen, Herkunftsländer, Migrationsverläufe) bewirkte vielschichtige Veränderungen innerhalb einer Gesellschaft, die sich auf verschiedene Dimensionen des Zusammenlebens auswirken (neue Formen von Ungleichheit, Vorurteilen, Rassismus, Segregation, räumlicher Präsenz, Kontakt, Creolisierung, etc.), von verschiedenen Faktoren (Alter, Geschlecht, Rechtsstatus, Arbeits- und soziale Bedingungen, etc.) geprägt sind und zu einer Neudefinition von sozialem Status, Identitäten und Schichten führen können (vgl. auch Meissner & Vertovec 2015). Das Konzept der SuperdiversitätSuperdiversität wurde in Bezug auf verändertes Sprachverhalten und damit für Dolmetscher:innen einhergehende Herausforderungen u.a. von Jacquemet (2011) aufgegriffen.

Derart veränderte Rahmenbedingungen gelten auch für das Dolmetschen in einem gesellschaftlichen Kontext im DACH-Raum, der besonders in den letzten Jahren von migrationsbedingten Veränderungsprozessen geprägt war. Die auf zunehmende Mobilität, aber auch auf Migration und Flucht zurückzuführende ethnische Vielfalt im DACH-Raum werden ebenso wie neue Entwicklungen infolge der zunehmenden Technologisierung einleitend dargestellt. Auch wenn der Fokus der vorliegenden Publikation auf Entwicklungen im Bereich des Lautsprachendolmetschens liegt, wird in einem Beitrag von Haug & Hofer in diesem Band ein Brückenschlag zur Forschung und Praxis im Bereich des Gebärdensprachdolmetschens vorgenommen.

Entwicklungslinien des Dolmetschens im soziokulturellen Kontext

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