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3.2 Kritische Gerontologie und Gesellschaft
ОглавлениеMit dem Ziel, kritisch gerontologische Ansätze identifizieren und – über die Zuordnung zu diversen Traditionslinien »externalistischer« Wissenschaft hinaus – miteinander vergleichen zu können, scheint es sinnvoll, stärker noch als Baars ihren Gesellschaftsbezug zu betrachten. Die Forderung nach der Berücksichtigung des gesellschaftlichen Kontextes ist bei Baars zwar angelegt, jedoch nur ansatzweise ausgeführt. Die Spanne kann aus seiner Perspektive grundsätzlich von der bloßen Wahrnehmung des gesellschaftlichen Kontextes über die explizite Thematisierung sozialer Ungleichheit bis hin zur gesellschaftsverändernden Utopie reichen.21
Zur Begründung einer Weiterführung können wir zunächst auf eine Feststellung von Margret Kuhn zurückgreifen. In einem offenen Brief an die Zeitschrift »The Gerontologist« hatte die damalige Vorsitzende der 1970 gegründeten Grey Panthers Folgendes festgestellt: Eine Gerontologie, die alte, arme und stigmatisierte Menschen zu Objekten ihrer Forschung mache, sie als Problem für die Gesellschaft betrachte statt als Personen, die gesellschaftliche Probleme erleben, suche unweigerlich nach Wegen der Anpassung der Menschen an die Gesellschaft statt nach Wegen, die Gesellschaft so zu humanisieren, dass sie den Bedürfnissen der alten Menschen entspricht (vgl. Kuhn, 1978, S. 422ff.). Folgt man der Forderung von Horkheimer (1988 [1937]), dass ›kritische‹ Wissenschaft sich sowohl des eigenen sozialen Entstehungszusammenhangs als auch ihres praktischen Verwendungszusammenhangs permanent zu vergewissern habe, muss man den offenen Brief dieser politischen Aktivistin ernst nehmen und über die rein methodische Berücksichtigung des Subjektstatus der alten Menschen in der Forschung hinausgehen. Radikal interpretiert läuft ihr Anspruch darauf hinaus, dass alle Gerontolog/-innen politische Intellektuelle werden, die sich mit sozialen Bewegungen verbinden. Jenseits der erkenntnistheoretischen und methodologischen Implikationen einer ›kritischen‹ Wissenschaft hat genau diese Frage nach dem normativen Verhältnis zu sozialen Kämpfen bereits in Horkheimers Zeitschriftenartikel aus dem Jahr 1937 eine Rolle gespielt und die Frankfurter Schule jahrzehntelang begleitet. Ihre Virulenz lässt sich auch in der historischen Entwicklung der Kritischen Gerontologie erkennen ( Kap. 2). Sie kommt zugespitzt in der Position von Dannefer et al. (2008) zum Ausdruck, dass die von der Kritischen Gerontologie – ob auf politisch-ökonomischer oder ideologiekritischer Basis – thematisierten Probleme real existieren und die Anwendung der kritischen Theorie auf diese Probleme voraussetze, »dass man von der kritischen Analyse an sich zu ihrer Anwendung im realen Leben übergeht« (Dannefer et al., 2008, S. 104).
Will man also kritisch gerontologische Ansätze miteinander vergleichen, sind diese auch daraufhin zu befragen, ob und mit welcher Radikalität Gesellschaft in den Blick genommen und welche Rolle Wissenschaftler/-innen dabei zugedacht wird. Zwar kann man grundsätzlich davon ausgehen, dass Kritische Gerontologie immer mehr als die Beschreibung von ›Realität‹ im Sinne einer Ordnungswissenschaft ist, denn in der Tradition kritischer Gesellschaftstheorien stehend will sie gesellschaftliche Verhältnisse nicht nur beschreiben, sondern verstehen und auf dieser Basis zum Besseren verändern. Dieses Festhalten an der Möglichkeit der Veränderung durch Kritik kann man auch als notwendiges utopisches Moment Kritischer Gerontologie bezeichnen. Konkret ist jedoch darüber hinaus zu fragen, wie die einzelnen Ansätze zur Emanzipation Älterer von bestehenden Macht- und Herrschaftsstrukturen beitragen wollen und welche Rolle dabei die Produktionsverhältnisse spielen – mit anderen Worten: ob sie radikal kapitalismuskritische Sichtweisen auf die Realität alternder Gesellschaften einnehmen (Köster, 2012) und welche Alternativen sie dabei ggf. entwerfen ( Kap. 4.9).