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2 Zur historischen Entwicklung der Kritischen Gerontologie Klaus R. Schroeter 2.1 Vorbemerkungen
Оглавление›Kritische Gerontologie‹ ist ein Label, das mitunter eingesetzt wird, um einen Unterschied zur ›herkömmlichen‹, ›traditionellen‹ oder ›instrumentellen‹ oder auch ›angewandten‹ Gerontologie zu markieren. Sie wendet sich gegen die Vorstellung, dass die ›Wahrheit‹ über das Altern objektiv zu messen sei, und gegen das Vorhaben, den Prozess des Alterns durch den Erwerb solch eines Wissens zu kontrollieren (vgl. Jamieson & Victor, 1997, S. 177). Sie versteht sich als Antonym zur konventionellen Altersforschung, die einen Beitrag zur Reifikation des Status quo leiste, indem sie nicht nur die Werkzeuge liefere, um menschliches Verhalten vorherzusagen und zu kontrollieren, sondern auch professionelle Interventionen legitimiere und damit Herrschaftsformen in Theorie und Praxis verstärke (vgl. Moody, 1988b, S. 33). Eine solche Sicht hat jedoch ihre Tücken, weil damit eine Grenze zwischen ›kritischer‹ und nicht kritischer oder ›unkritischer‹ Gerontologie gezogen wird. Und so mahnen auch Vertreterinnen und Vertreter der Kritischen Gerontologie davor, unnötige Gräben zu ziehen:
Stephen Katz hat es als einen der Augenöffner in seinem Leben als »selbstcharakterisierter kritischer Gerontologe« (Katz, 2015, S. 30)4 bezeichnet, als er in der Diskussion zu seinem Beitrag über Gerontologie und kritische Theorie auf einem Symposion von einem Kollegen eindringlich darauf aufmerksam gemacht wurde, dass Gerontologen schon immer kritische Denker gewesen seien und seit Jahrzehnten soziologische Ideen über soziale Ungleichheit und politische Ökonomie in die Gerontologie eingeführt hätten, ohne sich selbst als kritische Gerontologen zu bezeichnen (vgl. ebd., S. 30). Victor Marshall hatte zuvor beklagt, dass Kritische Gerontologen viel Zeit darauf verwenden, andere zu kritisieren und er sich selber nicht als kritischen Gerontologen betrachte, »weil ich die von vielen, die sich selbst so bezeichnen, eingenommene Haltung ablehne, die so viel gute Arbeit kritisiert. Ich schätze Arbeiten, und arbeite an einigen, die von vielen kritischen Theoretikern verurteilt würden, weil sie in den positivistischen Forschungsmodus fallen, Forschungen, die meiner Meinung nach einen Unterschied gemacht haben« (Marshall, 2009, S. 652). Insofern sei die Kritische Gerontologie in den Worten von Holstein und Minkler gut beraten, sich mit der traditionellen Sozialgerontologie in einer »ernsthaften, aber respektvollen Kritik« auseinanderzusetzen, da »da wir [i.e. Holstein und Minkler, K.R.S.] ähnliche Ziele, aber unterschiedliche Ansätze, Wissensquellen und erkenntnistheoretische Positionen verfolgen« (Holstein & Minkler, 2007, S. 13). In ähnlicher Weise hatte Moody davon gesprochen, dass die Kritische Gerontologie »keine Feindseligkeit oder Polemik fördern (muss), aber sie sollte oppositionell sein und bewusst unbequeme Fragen über die Hegemonie von Theorie und Methoden in der Mainstream-Gerontologie stellen« (Moody, 1993, S. XXI).5
Den Ursprung der Kritischen Gerontologie zu finden, ist kein leichtes Unterfangen. Mit etwas Phantasie könnte man ihn auch gleich in der Gründungsphase der Gerontologie suchen, als der kanadisch-amerikanische Biologe Edmund Vincent Cowdry (1888–1975)6 im Anschluss an die 1937 in Woods Hole, Massachusetts, durchgeführte erste wissenschaftliche Konferenz zum Altern das berühmt gewordene »Problems of Ageing« (Cowdry, 1939) herausgab. Cowdry hatte früh erkannt, dass es neben der damals gerade beginnenden Erforschung der »rein physikalischen, chemischen und biologischen Mechanismen des Alterns … riesige Felder gibt, die noch völlig unerforscht sind« und dass »unsere Unkenntnis über die psychiatrischen, emotionalen und soziologischen Aspekte des Alterns (fast ebenso groß ist)« (Cowdry, 1940, S. 53). In diesem Sinne hatte auch der damals 80-jährige John Dewey in seiner Einleitung zu »Problems of Ageing« in durchaus kritischer Sicht darauf hingewiesen, dass die biologischen Prozesse zwar die Wurzeln der Probleme und der Methoden zu ihrer Lösung seien, diese aber in wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Kontexten stattfinden und untrennbar mit diesen Kontexten verwoben sind, so dass einer auf den anderen in allerlei komplizierter Weise reagiert (Dewey, 1939, S. xxvi, zit. nach Achenbaum, 1995, S. 72; vgl. Dewey, [1939] 1988).7
Heute käme wohl kaum jemand auf die Idee, die Kritische Gerontologie mit den Anfängen der sozialwissenschaftlichen Alternsforschung in Zusammenhang zu bringen, als Anfang der 1940er Jahre das US-amerikanische Committee on Social Adjustment des Social Science Research Council einen Unterausschuss zum Alter (Subcommittee on Social Adjustment in Old Age) bildete (vgl. Young, 1941; Pollak, 1948) und unter der Leitung von Ernest W. Burgess und Robert J. Havighurst – freilich im Duktus des damals vorherrschenden Funktionalismus – die ersten Studien dazu entstanden (vgl. Cavan et al., 1949). Das würde heute vermutlich niemand unter dem Begriff der Kritischen Gerontologie fassen, es war aber zu dieser Zeit ein durchaus kritischer Beitrag, in dem die Interaktionsformen und Anpassungsprobleme an das späte Leben analysiert wurden. Cavan et al. hatten immerhin herausgearbeitet, dass soziale Phänomene den Status der Älteren beeinflussen – unabhängig von ihrem biologisch-physischen Zustand. Und in damals kritischer Weise plädierten sie dafür, dass die Sozialwissenschaften ihre eigenen Instrumente zur Erforschung des Alters zu entwickeln und sie nicht bei den biomedizinischen Wissenschaften zu entlehnen hätten. Das klingt heute weniger kritisch, zumal wenn man weiß, wie sich aus diesen Forschungen im Weiteren ein Eck-Konzept der idealisierten Aktivität in der Altersforschung entwickelte (vgl. Katz, 2000, S. 137–139). Aber diese frühen sozialwissenschaftlichen Antworten auf die biologischen und medizinischen Erkenntnisse waren die ersten Meilensteile einer sozialen Gerontologie, die sich dann jedoch einer zunehmenden Kritik aus den eigenen Reihen zu stellen hatte und den Vorwurf gefallen lassen musste, dass ihre herkömmlichen theoretischen Perspektiven eine normative Voreingenommenheit zur Anpassung alternder Menschen an die Gesellschaft widerspiegelt, die durch die methodischen Vorbehalte der meisten Gerontologen verstärkt würde (Marshall und Tindale, 1979, S. 163).