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1.1Konzepte und Wissensformationen von Nachhaltigkeit

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Gegenüber der traditionellen philosophischen Auffassung, dass es sich bei Ideen um zeitlose und abstrakte Begriffe handelt, hat die neuere Ideen- und Wissensgeschichte zwei wesentliche Änderungen eingeführt (vgl. Müller/Schmieder 2016): Erstens geht sie davon aus, dass Wissen sich wandelt. Ideen haben eine Geschichte, die man wissenschaftlich untersuchen und rekonstruieren kann. Wann ist eine Idee aufgekommen und in welchem Kontext? Wie wurde sie aufgegriffen, weitergegeben und wie hat sich ihre Bedeutung geändert? Welche unterschiedlichen Verständnisse eines Begriffs kursieren innerhalb einer Gesellschaft und darüber hinaus?2 Zweitens folgt die Wissensgeschichte der Annahme des linguistic turn (Richard Rorty), dass es für einen Gedanken entscheidend ist, wie er sprachlich verfasst wird. Demzufolge gibt es keine abstrakten Ideen, die erst im Nachhinein sprachlich dargestellt werden. Was Rorty (1967) in Bezug auf Sprache formuliert, gilt auch für alle anderen Medien: Das Verständnis bildet sich direkt in einem oder mehreren Medien aus und wird entsprechend durch sie geprägt. Es stellt sich somit die Frage, wie Wissen durch verschiedene mediale Darstellungen geformt wird. Welche spezifischen Eigenschaften und Affordanzen (vgl. Zillien 2008) bringt ein bestimmtes Medium, wie Sprache oder etwa grafische Darstellungen, mit sich? Ludwig Jäger bezeichnet diese medienspezifischen Prägungen als „Transkriptionen“ (2001). Wissensgeschichtliche Untersuchungen beschäftigen sich folglich mit Wissensformationen sowohl im Hinblick auf ihre Geschichtlichkeit als auch ihre Medialität.

Bezüglich der eingangs geschilderten Beobachtung sind aus wissensgeschichtlicher Perspektive zudem zwei Aspekte interessant: zum einen, dass das Konzept der Nachhaltigkeit für so viele Menschen in völlig verschiedenen Bereichen eine solche herausragende Bedeutung und Relevanz besitzt, und zum anderen, dass sich nahezu alle in positiver Weise darauf beziehen. Es zeichnet sich also sowohl durch eine enorme gesellschaftliche Reichweite als auch durch eine hohe Wertschätzung aus. Die Nachhaltigkeitsdebatte bietet den Anlass, dass Menschen diskutieren, was ihnen gegenwärtig wichtig ist, auch in der Form, dass sie artikulieren, was sie sich für ihre Zukunft wünschen oder wovor sie sich fürchten. Kurz: Nachhaltigkeitsvorstellungen bilden einen wichtigen Teil des sozialen Imaginären – zumindest westlicher Gesellschaften (vgl. Kagan, im Erscheinen). Die Vagheit und Offenheit des Verständnisses scheint dabei eine bereichsübergreifende Kommunikation erst zu ermöglichen.3 Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Nachhaltigkeit für fast alle einen positiven Referenzpunkt darstellt, der hinsichtlich seiner Bedeutung aber nicht festgelegt ist.

Wie konnte Nachhaltigkeit diese prominente gesellschaftliche Stellung erlangen, die man mit Ernesto Laclau als „empty signifier“ (Laclau 2002: 69), als ‚leeren Signifikanten‘ bezeichnen könnte?4 Wo ist das Konzept der Nachhaltigkeit zuerst aufgetaucht? In welche anderen Bereiche wurde es dann übertragen? Seit wann ist es zu einem „absoluten Begriff” (Schüttpelz 2007: 25) aufgestiegen, der nicht mehr nur einem spezifischen Bereich zugeordnet werden kann, sondern in fast allen gesellschaftlichen Teilbereichen eine Referenz darstellt?

Diese weitreichende diskursgeschichtliche Rekonstruktion kann hier nicht geleistet werden. Stattdessen konzentriere ich mich im Folgenden auf die unterschiedlichen Verständnisse von Nachhaltigkeit. Ein wesentlicher Aspekt wird dabei sein, wie Nachhaltigkeit als wissenschaftlicher Gegenstand behandelt worden ist. Denn im Fall des Nachhaltigkeitsdiskurses gingen entscheidende Impulse von wissenschaftlichen Darstellungen aus, die in der Folge massenmedial aufgegriffen und öffentlich diskutiert wurden. Drei Texte, die für die Nachhaltigkeitsdebatte prägend waren und immer noch als richtungsweisend gelten, stehen im Zentrum meiner Analyse: Das 1713 erschienene Buch Sylvicultura oeconomica von Hans Carl von Carlowitz (2013); die von Donella H. sowie Dennis L. Meadows und ihrem Team 1972 publizierte Schrift The Limits to Growth (dt.: Die Grenzen des Wachstums), die auch als Bericht des Club of Rome bekannt geworden ist (Meadows et al. 1980); und schließlich der sogenannte Brundtland-Report, also der Text, den eine unabhängige UNO-Kommission 1987 unter dem Titel Our Common Future (dt.: Unsere gemeinsame Zukunft) vorstellte (Weltkommission 1987).

In der Analyse habe ich fünf Kernaspekte herausgearbeitet, die in allen drei Texten eine wesentliche Rolle spielen. Das gilt zunächst für diese drei Schriften; die Motive und Fragen sind jedoch so grundlegend, dass sie mir geeignet erscheinen, um generell bei der vergleichenden Analyse von Nachhaltigkeitsdiskursen eingesetzt zu werden.5 Insofern handelt es sich um idealtypische Konstruktionen, um eine Heuristik, die aus den historisch-konkreten Formen abgeleitet ist. Entsprechend muss man sie anpassen, wenn andere Quellen mit einbezogen werden. Die idealtypische Heuristik ermöglicht es aber, sich in den diversen und oftmals diffusen Auffassungen dessen, was Nachhaltigkeit bedeutet, zu orientieren, Vergleichsanalysen anzufertigen und innerhalb eines Nachhaltigkeitsdiskurses dessen inhärente Konsequenzen durchzuspielen. Wie die Beispielanalysen im Folgenden zeigen werden, beschränke ich mich dabei nicht auf Begriffe oder Ideen. Vielmehr beziehe ich mit ein, in welchen Metaphern, Diagrammen und technischen Kontexten das Wissen über Nachhaltigkeit formuliert, dargestellt und dadurch eben auch formiert wird.6

Die fünf Kriterien oder Kernaspekte sind: erstens, der Anlass, welcher im Text als Grund oder Motivation für die Darstellung angegeben wird; zweitens, die Ressource, die erhalten werden soll; drittens, die Bezugseinheit, auf die sich die Berechnung des zu Erhaltenden bezieht; viertens, das Wissen, welches man benötigt, um entsprechende Berechnungen anstellen zu können; und fünftens, die Akteure und ihre Positionierung, also wer in welcher Weise aktiv oder passiv beteiligt ist, in welchem institutionellen Setting etc. und wie sich die Autorin oder der Autor bzw. deren jeweilige Institution selbst in Bezug auf das beschriebene Problem positioniert.

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