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1.7 Konsolidierung
ОглавлениеDer Amoklauf an der Gutenberg-Schule in Erfurt im Jahr 2002 erschütterte das Schulsystem und veränderte auch die Schulpsychologie in Deutschland nachhaltig. Die Öffentlichkeit forderte psychologische Kompetenzen in Schulen zur primären, sekundären und tertiären Prävention von Gewalt und Amokläufen in Schulen. Die Politik war aufgrund der katastrophalen Versorgungszahl in der Schulpsychologie zum Handeln aufgefordert.
In Angeboten zur Unterstützung des Systems Schule, Nachsorgegesprächen mit Schülergruppen und auch individuellen Interventionen verschmolzen die unterschiedlichen Ansätze der Schulpsychologie. Systemberatung ohne individuelle psychologische Angebote wurde unmöglich. Die Schulpsychologie bewies sich als Partnerin von Schulen in Krisen sowie als kompetente psychologische Ressource zur Krisenbewältigung und Nachsorge. In den Jahren nach Erfurt entwickelten sich in allen Bundesländern Konzepte zur schulpsychologischen Krisenprävention und -intervention. Mehrere Bundesländer erhöhten die Anzahl schulpsychologischer Stellen zum Teil erheblich. In Baden-Württemberg wurde die Zahl der schulpsychologischen Fachkräfte in wenigen Jahren um das Vierfache gesteigert, in NRW wurden 75 neue Stellen geschaffen.
Die bayerische Schulpsychologie reagierte als Erste auf die Entwicklung. Fortbildungen und Tagungen zum Umgang mit Krisen in Schulen wurden durchgeführt, und 2002 das »Kriseninterventions- und -bewältigungsteam bayerischer Schulpsychologen (KIBBS)« gegründet. Andere Bundesländer folgten und bauten unter ihren jeweiligen organisatorischen Bedingungen ein schulpsychologisches Krisenmanagement auf. Nach einer bundesweiten Tagung mit Ministeriumsvertretern im Jahr 2009 veröffentlichte die Sektion Schulpsychologie im BDP 2010 Richtlinien zur Qualifizierung in schulpsychologischer Krisenintervention.
Schulpsychologische Kompetenzen konnten bei den alltäglichen Krisen in Schulen, aber auch bei den tatsächlich nachfolgenden Amokläufen in Schulen unter Beweis gestellt werden. Krisen im Schulalltag führten aufgrund der schnellen medialen Verbreitung sowie der Ängste vor einem weiteren Amoklauf zu einer hohen Dynamik in den Schulen. Die Schulpsychologie fand dadurch einen weiteren Zugang zur Beratung von Schulen (vgl. Drewes & Seifried, 2013; Kap. III-9).
Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention aus dem Jahr 2006 wurde nach der Ratifizierung durch die Bundesregierung ab 2009 zu einer neuen thematischen Herausforderung für die Schulpsychologie (Seifried & Drewes, 2013). Der Ruf nach einer Bündelung von außerschulischen Beratungssystemen wurde als notwendige Unterstützung bei der Umsetzung der Inklusion laut.
Die 2000er Jahren waren parallel zu diesen Entwicklungen davon geprägt, die unterschiedlichen Auffassungen über die Ausrichtung der Schulpsychologie zusammenzuführen und zu einem gemeinsamen Berufsprofil zu entwickeln. Es ist u. a. das Verdienst der Aachener Schulpsychologin Inge Loisch, die bereits seit 2003 unermüdlich die unterschiedlichen Gruppierungen und Landesverbände zu Diskussionen anregte und die Entstehung eines gemeinsamen Berufsprofils koordinierte. Im Jahr 2006 gelang es dann erstmals, ein bundesweites Berufsprofil der Schulpsychologie in Deutschland zu veröffentlichen. Mittlerweile liegt das Berufsprofil Schulpsychologie in der 4. Auflage vor (BDP Sektion Schulpsychologie, 2018).
Die verstärkte Kooperation führte teilweise zu neuen Organisationsformen. In NRW wurden in einigen Kommunen Erziehungs- und Familienberatungsstellen mit Schulpsychologischen Beratungsstellen zusammengelegt, in Bremen entstand ein Regionales Beratungs- und Unterstützungszentrum (ReBUZ), in Hamburg das Regionale Bildungs- und Beratungszentrum (ReBBZ), in denen schulpsychologische, pädagogische, sonder- und sozialpädagogische neben weiteren Fachkompetenzen eingesetzt wurden. Das Thema der multiprofessionellen Aufstellung schulunterstützender Einrichtungen ist seitdem ein zentraler Punkt in der Schärfung und Weiterentwicklung des schulpsychologischen Berufsprofils. So sind beispielsweise in NRW 2019 Lehrkräfte an die schulpsychologischen Beratungsstellen abgeordnet worden, um im gewaltpräventiven Aufgabenbereich eine zusätzliche Ressource zur Beratung des Systems Schule bezüglich Extremismusprävention zu bilden (Ministerium für Schule und Bildung NRW, 2019).
Die Bologna-Reform Ende der 1990er-Jahre mit der Einführung von Bachelor- und immer differenzierteren Masterstudiengängen in Psychologie machte die Festlegung auf eine Grundqualifikation für die Schulpsychologie erforderlich. In allen Bundesländern mit Ausnahme von Bayern wird als Qualifikation ein Vollstudium in Psychologie mit einem Diplom oder Masterabschluss gefordert. An der Universität Tübingen entstand 2012 ein konsekutiver Studiengang mit Master Schulpsychologie. 2017 entstand als Gemeinschaftsprojekt der Universität Tübingen, der Goethe-Universität Frankfurt und dem hessischen Kultusministerium ein Kompetenzzentrum Schulpsychologie.
Die enge Kooperation mit anderen Berufsgruppen, der Wissenschaft und der Politik, aber auch die stetige Schärfung des Berufsprofils sind so zu zentralen Elementen der Fortschreibung der Geschichte der Schulpsychologie in Deutschland geworden.