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2.3 Herausforderung: Handeln unter Unsicherheit bei hohem Handlungsdruck

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Aufgrund der Kompliziertheit und der daraus folgenden nur sehr bedingten Vorhersagbarkeit menschlichen Verhaltens und Erlebens gibt es für jedes als problemhaft wahrgenommene Verhalten oder Phänomen eine Vielzahl von Erklärungsmöglichkeiten. Daraus folgt zwangsläufig eine Unsicherheit der Verhaltenserklärung und -vorhersage, die auch das schulpsychologische Handeln in der Regel zu einem Handeln unter Unsicherheit macht.

Man mag das für eine zu pessimistische Sichtweise des Leistungsstandes psychologischer Erklärungen menschlichen Verhaltens und Erlebens halten und einwenden, dass es viele klare Verhaltensmuster gibt, bei denen zwar eine grundsätzliche Unsicherheit besteht, wie und ob sie ablaufen, aber wenig Unsicherheit besteht, über welche Maßnahmen man die entstehenden Probleme in den Griff bekommt. Das ist richtig, und in jedem Jahr werden neue erklärungskräftige und bisweilen auch nützliche psychologische Theorien publiziert. Allerdings muss man sich vor Augen halten, dass im schulpsychologischen Alltag vor allem die mit großer Unsicherheit verbundenen Problemlagen zu lösen sind: Die Expertinnen und Experten schulpsychologischer Dienste werden in der Regel dann angefordert, wenn ein hoher Grad an Unsicherheit im Problemfall und ein hoher Leidensdruck bei den Betroffenen oder Beteiligten vorliegt.

Wie in vielen anderen Berufen, in denen Verantwortung für andere Menschen zu tragen ist, ist das Alltagsgeschäft von Schulpsychologinnen und Schulpsychologen geprägt von Unsicherheit bei gleichzeitig hohem Handlungsdruck. Beispielsweise wird der Schulpsychologe bzw. die Schulpsychologin herbeigerufen, weil ein Konflikt zwischen Eltern und Lehrer sich verhärtet hat, oder weil ein Schüler oder eine Schülerin trotz allgemein guter Schulleistungen unter massiven Leistungsängsten leidet. In beiden Fällen erfolgt der Einbezug erst nach einer Weile, wenn die Lehrkraft oder die Schulleitung »am Ende ihres Lateins« sind, der Konflikt sich manifestiert hat und erhöhter Handlungs- bzw. Lösungsdruck besteht. Wie schön wäre es nun, wenn die Schulpsychologin oder der Schulpsychologe ihren Theoriekoffer oder ihr Rezeptbuch öffnen könnte und die genau auf die Situation passende Erklärung herausziehen könnte, aus der eindeutig hervorgeht, welche Bedingungskonstellationen das jeweils vorliegende Problem verursacht haben und mit welchen Maßnahmen man es aus der Welt schaffen kann. Nicht selten erhoffen sich diejenigen, die die schulpsychologische Hilfe angefordert haben, genau dieses: eine Art »Reparaturwerkstatt«.

Aber – wie bereits im Vorwort des klassischen Werkes von Miller, Galanter und Pribram (1960) ausgeführt – ist das menschliche Erleben und Verhalten »really complicated«, so dass psychologisch begründetes Handeln nach Rezeptbuch nur selten möglich ist. Zu verschieden sind die möglichen Gründe oder Auslöser etwa von Leistungs- oder Prüfungsängsten. Sie können inner- und außerschulisch unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten folgen. Unterschiedliche diagnostische Vorgehensweisen könnten je nach der tatsächlich vorliegenden psychischen Konstellation weniger oder besser geeignet sein. Möglicherweise bedarf es mehrerer unterschiedlicher diagnostischer Vorgehensweisen (z. B. Testverfahren, Familiengespräch, Unterrichtsbeobachtung), bevor sich ein erfolgversprechender Lösungsweg abzeichnet. So umfasst das Spektrum der professionellen Kompetenzen im Feld der Schulpsychologie auch ein überdurchschnittliches Ausmaß an Ambiguitätstoleranz, also der Fähigkeit, Unsicherheit über einen längeren Zeitraum auszuhalten. Für manchen Berufsanfänger und manche Berufsanfängerin ist das eine besondere Herausforderung.

In den meisten Fällen kann also die Hoffnung auf schnelles, rezeptartiges Lösen der dem Schulpsychologen bzw. der Schulpsychologin angetragenen Probleme in der Realität nicht erfüllt werden – selbst dann nicht, wenn die einbezogene schulpsychologische Fachkraft ausgesprochen kompetent ist, sich hervorragend in den Theorien, diagnostischen Verfahren und Interventionsstrategien bei sozialen Konflikten oder bei den beispielhaft angesprochenen Leistungsängsten auskennt. Dies hat viele Gründe. Ein wesentlicher Grund dürfte in der Natur der Komplexität und Variabilität menschlichen Erlebens und Verhaltens liegen und der daraus folgenden Bedingtheit und probabilistisch eingeschränkten Sicherheit der Gesetzmäßigkeiten, die für psychologische Theorien konstitutiv sind. Diese sind nämlich in der Regel konditional bzw. basieren auf überzufälligen Wahrscheinlichkeiten, so dass ihre angemessene Nutzung konditionales Denken voraussetzt.

Konditionales Denken basiert auf der formallogischen Nutzung von Informationen und ist somit eine Form des deduktiven Schlussfolgerns auf der Basis der Regeln des »Modus ponens« und des »Modus tollens«. Unter Modus ponens versteht man das logische Ableiten einer schlussfolgernden Aussage »B« aus wenigstens zwei Prämissen der Art »Wenn A, dann B« und »A«. Wenn also die Prämissen gelten: »Wenn es regnet, wird die Straße nass« und »Es regnet«, dann folgt logisch daraus: »Die Straße wird nass«. Beim Modus tollens handelt es sich um die logische Schlussfigur der Art, dass aus den Prämissen »Wenn A, dann B« und »nicht B« gefolgert wird, dass auch »nicht A« gilt. Um im Beispiel zu bleiben: Bei Gültigkeit der Prämissen »Wenn es regnet, wird die Straße nass« und »Die Straße ist nicht nass« kann in der Logik des Modus tollens gefolgert werden: »Es regnet nicht«.

Seit den Arbeiten von Wason (1966) ist bekannt, dass auch Erwachsene typischerweise große Schwierigkeiten mit der Lösung abstrakter Probleme der Art »Wenn A, dann B« haben. In seiner bekannten »Selection Task« zeigte er beispielsweise seinen Versuchspersonen vier Karten, auf denen jeweils ein Symbol abgebildet war; auf einer »A«, auf einer »B«, auf einer »4« und auf der vierten »7«. Er sagte den Versuchspersonen, dass alle Karten auf der einen Seite einen Buchstaben und auf der anderen Seite eine Zahl abgedruckt hätten. Sie sollten nun so viele Karten wie nötig umdrehen, um zu prüfen, ob die Aussage stimme: »wenn ein Konsonant auf einer Karte zu sehen ist, dann steht auf der Rückseite eine gerade Zahl«. Nur wenige Versuchsteilnehmer erzielten dabei die richtige Lösung, nämlich dass es ausreicht, die Karten mit dem »A« und mit der »7« umzudrehen. Wenn auf der Rückseite von »A« nämlich keine gerade Zahl steht, ist die Regel verletzt; wenn auf der Rückseite von »7« ein Konsonant steht, ist die Regel ebenfalls verletzt. Offensichtlich tun sich viele Menschen schwer, die formale Logik, die ihnen abstrakt trivial erscheint, in Alltagssituationen effizient zu nutzen. Von Schulpsychologinnen und Schulpsychologen erwartet man aber genau das: Sie sollen in komplexen Situationen mit schwer durchschaubaren Konstellationen von Zusammenhängen möglichst sparsam und effizient diagnostizieren und wirkungsvolle Lösungsansätze unterbreiten.

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