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Problemstellungen, Kontext und Interessen Vom Problem christlicher Werte
ОглавлениеDer Wertebegriff 1 entstammt ursprünglich nicht der Welt der Religionen, sondern der Ökonomie. Werte sind in diesem Kontext quantitativ messbare Größen, die sich im Rahmen von Tauschverhältnissen ergeben. In der Philosophie taucht der Wertebegriff erst im 19. Jahrhundert auf. Eine Schlüsselrolle spielt Friedrich Nietzsche. Im Kontext seiner Moral-, Ethik- und Kulturkritik konstatiert er einen in Europa fortschreitenden Prozess einer „Entwertung der obersten Werte“2: den Nihilismus. Dieser führt zu einem radikalen Verlust des Vertrauens in eine absolute Instanz, die für eine universale Gültigkeit ethischer Prinzipien bürgt. Im Bild vom „Tod Gottes“ wird diese Erfahrung zum Ausdruck gebracht. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde in der Philosophie dann darüber diskutiert, ob Werte vom Menschen unabhängig „an sich“ existieren („Wertobjektivismus“) oder nur subjektiv für jemanden gelten („Wertsubjektivismus“).
Theologie, Philosophie und Ethik begegnen dem Wertebegriff aufgrund dieser Herkunft bis heute eher reserviert. Denn ohne Bezug auf eine universale Transzendenz gibt es keine Möglichkeit, allgemeingültige ethische Prinzipien oder Urteile zu entwickeln. Der Verlust des ethischen Anspruchs auf Universalität kann zu einem Relativismus führen, an dessen Ende nur mehr der menschliche Wille und die Machthaber darüber entscheiden, welche Werte gültig sind. Auch ein gegenständliches Verständnis von Werten, die „objektiv“ vorliegen – gleich, ob außerhalb oder innerhalb des Subjekts –, reduziert den Akt ethischer Urteilsfindung auf positivistische Selbstbehauptung. Die Kritik am ökonomischen Ursprung des Wertebegriffs bringt wiederum Hannah Arendt auf den Punkt:3 Die Reduktion von Ethik auf Werte führt zu einer Vernützlichung, Vergesellschaftung und Austauschbarkeit von Werten, die auch vor der Verrechenbarkeit und Verwertung des Menschen nicht haltmachen werden.
Aus der Sicht von Judentum, Christentum und Islam4 ist der Wertebegriff überdies deshalb problematisch, weil sich Werte im allgemeinen Sprachgebrauch als Resultate einer radikal autonom gedachten Vernunft verstehen. Nun sind diese drei monotheistischen Religionen selbstverständlich konstitutiv mit ethischen Konzepten verbunden. Aber jene Vernunft ist nicht absolut autonom, sondern relational. Denn diese Religionen anerkennen auch eine heteronome Quelle, der sie ihre Werte verdanken und vor der sie sich zu rechtfertigen haben: die Offenbarung einer göttlichen Autorität. Deshalb spricht man in diesen drei Traditionen bevorzugt von Regeln und Vorschriften, Prinzipien und Normen, Geboten und Gesetzen. Da auch diese der freien und vernünftigen Interpretation unterliegen, sind sie konstitutiv pluralistisch. Aber von der Offenbarung Gottes her sind einer grenzenlosen Pluralität Grenzen gesetzt. So sind beispielsweise der Schutz des Lebens, die Würde und Einzigartigkeit jedes Menschen sowie die Gleichheit aller Menschen unaufhebbare ethische Normen der monotheistischen Traditionen.
Umgekehrt ist auch der Glaube an Gott in diesen drei Religionen untrennbar mit dem Ethos der Offenbarung verbunden. Wer sie ablehnt, mag an einen Gott glauben – aber er glaubt nicht an jenen Gott, der im Tenach, in der Bibel und im Koran bezeugt wird.5 Dieser ethische Monotheismus hat seinen Ursprung im Alten Testament, das – im Unterschied zu den anderen religiösen Traditionen des Alten Orients – das Ethos (z. B. der Nächsten- und Fremdenliebe) sakralisiert, das heißt der beliebigen Willkür des Einzelnen (z. B. eines Pharaos oder Gottkönigs) entzieht und zu göttlichem Recht erklärt.6 Damit steht zum Beispiel jeder Mensch unter Gottes besonderem Schutz und heiligt Gott, wer sein Ethos befolgt. Die Nächstenliebe ist damit nicht nur Folge, sondern Wesen und Ausdruck der Gottesliebe und ist dem Nächsten nicht nur moralisch, sondern auch rechtlich geschuldet.7 Von christlichen Werten zu sprechen, ist daher aus der Sicht des ethischen Monotheismus nur dann möglich, wenn sich diese im Ethos Gottes verankern. Die Rezeption des modernen Wertebegriffs erfolgt deshalb vonseiten der ethischen Monotheismen nur mit gewissen Spannungen.