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Grundlegungen einer christlich-sozialen Politik

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Bettina Rausch

Seit den 1990er-Jahren gibt es länderübergreifende Veränderungen in der Sozialpolitik, die häufig mit Begriffen wie „Eigenverantwortung“, „Teilhabegerechtigkeit“ und „Generationengerechtigkeit“ begründet werden. Sozialpolitik braucht ein theoretisches Fundament, das insbesondere das Wesen des Menschen an sich klären und erklären muss. Eine solche theoretische, aber nicht teleologische Grundlegung für Sozialpolitik bietet die christliche Soziallehre.

„Sozial ist, was stark macht“, hat Sebastian Kurz klar die Grundsätze der Sozialpolitik der neuen Volkspartei umrissen. Sozialpolitik muss dabei Grundsätze aufgreifen, die die Politik theoretisch legitimieren und auf die man in Übergangszeiten zurückgreifen kann. Eine solche theoretische Grundlegung für die Sozialpolitik der neuen Volkspartei bietet die christliche Soziallehre. „Soziallehre“ versteht sich für uns nicht als Heilslehre mit innerweltlichem Erlösungsanspruch, sondern schöpft ihre Grundlagen aus einem Menschenbild und einer Anthropologie, die das „Mängelwesen Mensch“ (Gehlen) in seiner Gesamtheit beschreibt und ernst nimmt. Gerade Sozialpolitik benötigt eine theoretische Grundlegung, da sie ansonsten Gefahr läuft, sich in unfinanzierbarem Populismus zu erschöpfen. So zeugt die gegenwärtige Hochkonjunktur der sozialen Frage nicht unbedingt vom ausgeprägten Gerechtigkeitsgefühl der Akteure, vielmehr folgen viele Vorschläge dem schlichten Motto „links, weil’s bequem ist“. Die Debatte um Mindestlöhne, so die Schlussfolgerung eines „Zeit“-Leitartikels, sei kein Indiz dafür, dass Bürgerinnen und Bürger sozialer würden, sondern dass das Elektorat lediglich mehr Geld und weniger Zumutungen wolle. Wer heute als Anwalt der sozialen Frage auftritt, vermischt dabei nur allzu oft Altruismus, Bigotterie und Eigennutz. „Sozial“ wird dabei missdeutet als eine Politik, die dem Einzelnen weniger abverlangt und mehr zukommen lässt. Nur ist langfristig populäre Politik nicht immer die sozialste, denn am Ende des Tages gilt immer noch: There is no such thing as a free lunch.

Und eben hier liegt der wunde Punkt aktueller sozialpolitischer Debatten. Nicht zu wollen heißt hierzulande nunmehr vor allem eines: Reduktion von Politik auf Sozialhilfe. „Sozialpolitik“ wäre schon zu viel gesagt. Die Bismarck’sche Sozialpolitik, Geburtshelfer der heutigen, diente ja dem Zweck, die Arbeiter zu befrieden, um dafür umso mehr den Willen Bismarck’scher Politik durchsetzen zu können. Es war gewissermaßen die Zweiteilung zwischen denen, die fragen „Was wird uns geschehen?“ und denen, die fragen „Was können wir tun?“. Die Frage nach dem, was uns geschehen wird, ist die Frage der Dekadenz, zu der Bismarck die Arbeiterschaft überreden wollte, während er selbst den Willen zur Macht exerzierte. Gehen wir taktvollerweise nicht dem Verdacht nach, inwiefern die Sozialpolitik der 1930er- und 1940er-Jahre zum Modell für die heutige geworden ist. Die vorangegangene Amoral jedenfalls sollte die aktuellen Führer der Sozialdemokratie eigentlich abschrecken, ihren Willen zur Sozialhilfe so ganz ohne sonstige Ambitionen zu verklären.

Aus diesem falsch verstandenen Pragmatismus – gepaart mit einem Mangel an außermaterialistischen Überzeugungen und dem Fehlen eines positiven Menschenbilds – entsteht für Alois Mock, den Vordenker eines ganzheitlichen christlich-sozialen Politikstils, inhaltliche Beliebigkeit, schlimmstenfalls sogar politische Orientierungslosigkeit. Mock hielt ein christliches Menschenbild für den wesentlichen Bestandteil von Sozialpolitik: „Ich wage zu behaupten, dass es allein die christdemokratischen Parteien sind, die nach einem gesellschaftlichen Modell Politik machen. Wer vertritt denn heute noch einen der acht bis zehn Grundsätze, die zur Gründung der sozialistischen Parteien geführt haben? Wahlen gewinnen sie nur, wenn sie den Sozialismus verstecken.“1

Die neuen sozialen Fragen lassen sich nicht mit dem überlieferten Instrumentarium der Sozialpolitik der Nachkriegszeit befriedigend beantworten. Zu oft beschränkt sich Sozialpolitik auf die Alimentierung der aus dem Erwerbsprozess Herausgefallenen. Eine neu entstandene, im Feuilleton mit einer Mischung aus Ekel und distanziertem Entsetzen beschriebene Unterschicht hat schmerzhaft aufgezeigt, dass die Logik der passiven Transferzahlung langfristig alles andere als sozial verträglich ist. Vielmehr entlässt sie die Menschen in die Unmündigkeit und schürt eine Unzufriedenheit, die nur allzu oft zu Gewalt und anderen sozialen Problematiken führt.

Die Selbstgenügsamkeit der traditionellen Sozialpolitik mit ihren abstrakten Solidaritätsgesten vergaß dabei, den notwendigen Beitrag jeder einzelnen Person für das Gemeinwohl einzufordern. Jetzt geht es darum, „Narrative des Sozialstaates“ (Meyer) zu finden, die die Interessenkonflikte zwischen Individuum und Gemeinwohl sowie zwischen Kapital und Arbeit zum Wohle der Gesamtgesellschaft minimieren. Eingelernte Verhaltensmuster, beliebte Sündenböcke und altgediente Feindbilder müssen hinterfragt werden. Es ist beispielsweise nicht sozial, wenn der Mittelstand in Österreich knapp 42 Prozent der Lohn- und Einkommensteuer entrichten muss, weshalb die neue Volkspartei klar für Steuerentlastungen eintritt. Es ist beispielsweise nicht sozial, wenn die gesellschaftliche Durchlässigkeit in Österreich erschreckend gering ist. Und schließlich: Es ist generell nicht sozial, wenn Partikularinteressen als bedeutender als Gesamtinteressen angesehen werden. Um den Sozialstaat neu zu denken, braucht es also einen theoretischen Überbau, der Sozialpolitik nicht in eigentlich zynischer Art und Weise mit der Auszahlung von Geld zur Befriedigung kurzfristiger Konsumanreize verwechselt. Das Ziel von Sozialpolitik muss sein, Menschen langfristig bei der Entwicklung ihrer Persönlichkeit zu unterstützen und sie zu befähigen, selbst ihr Leben zu finanzieren und zur Gemeinschaft beizutragen.

Nach dem Scheitern des real existierenden Sozialismus verbleiben die christliche Soziallehre, die „soziale Demokratie“2 und die liberale Demokratie als politische Weltanschauungen, die sich mit unterschiedlicher Gewichtung an der sozialen Frage abarbeiten. Während im rein liberalen Diskurs die soziale Frage oft zu einschränkend als Folgeprodukt der Marktwirtschaft betrachtet wird, ist sie für die christliche Soziallehre und die soziale Demokratie eine zentrale Begrifflichkeit, um die Gesellschaft in all ihrer Widersprüchlichkeit zu denken. Während die soziale Demokratie aber materialistisch und immanent argumentiert, fordert die christliche Soziallehre auch nicht-materialistische und transzendente Werte und Begrifflichkeiten ein.

Solche Grundwerte können von Parteien ebenso wenig wie in Verfassungen letztbegründet werden – wie es auch der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde in seinem Diktum, wonach „der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann“3, formuliert. Gemeinsame Werte können zwar von der Gesamtgesellschaft anerkannt werden, aber begründen kann diese Werte in pluralistischen Gesellschaften nur der Einzelne. Oberste und letztendliche Wahrheiten kann eine demokratische Politik nicht liefern; politische Parteien begnügen sich mit vorletzten Begründungen und überlassen es dem Gewissen des und der Einzelnen, Entscheidungen schlüssig zu begründen. Stimmige Letztbegründungen für soziale Homogenität und nachhaltige Sozialpolitik findet der Bürger beim Rückgriff auf die großen Weltreligionen und die klassischen philosophischen Ethiken. Neben der katholischen Soziallehre und der evangelischen Sozialethik haben auch der Islam (z. B. mit der Zakat) und das Judentum komplexe Vorschriften für ein sozial verträgliches Miteinander entwickelt.

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